: Neuanfang in Ost-Berlin: Ja oder Nein
Brief vom Bündnis 90 und den DDR-Grünen an die Ostberliner SPD ■ D O K U M E N T A T I O N
Die Berliner haben gewählt. Achtzig Prozent der Bevölkerung haben einer CDU dominierten Regierungspolitik eine Absage erteilt.
Nach einem Sondierungsgespräch der SPD und der CDU wurde uns mitgeteilt, daß es keine inhaltlichen Unterschiede gab und somit eine Koalition zwischen CDU und SPD möglich wäre. Zu dieser wollte die SPD das Bündnis 90 und die Grünen einladen und damit den aktivsten und unbelasteten Kräften des Herbstes 1989 die Türen zum Roten Rathaus öffnen.
Warum sind das Bündnis 90 und die Grünen nicht bereit, mit der CDU zu koalieren?
Im Bewußtsein der Wähler sind CDU und SPD Alternativen. Es kann daher nicht die richtige Deutung des Wählerwillens sein, wenn diese beiden Parteien eine Koalition bilden. Die CDU ist als alte Blockpartei wesentlich an der Politik der letzten vierzig Jahre beteiligt. Sie war eine Marionette der SED und ist jetzt eine Marionette der bundesdeutschen CDU. Sie hat sich zwar gewandelt, von rot über grau zu schwarz, bleibt aber ihrem Opportunismus treu. Nach wie vor macht sie Politik hinter geschlossenen Türen. Sie informiert die Bürger nicht über die Verhandlungen mit der Bundesrepublik. Sie stellt den Entwurf des Staatsvertrages nicht öffentlich zur Debatte. Sie blockiert die Diskussion über den Verfassungsentwurf des Runden Tisches.
Wie können wir dieser Partei alten Typus trauen?
Wenn die SPD sagt, daß es hierbei nicht um die Vergangenheit ginge, sondern um Sachfragen, muß sie es sich gefallen lassen, daß die polemische Frage gestellt wird: Warum dann keine Koalition mit der PDS, die von über 30 Prozent der Berliner Bevölkerung gewählt wurde und deren Differenz in Sachfragen kaum erkennbar ist?
Die SPD möchte regieren, aber nur mit einer absoluten Mehrheit. Diese wäre allerdings auch ohne CDU und PDS möglich.
In Berlin ist ein wirklicher Neuanfang möglich. Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Wir sind auch bereit, mit der SPD eine Minderheitsregierung zu bilden. Die negativen Auswirkungen des Staatsvertrages wollen wir durch kommunale Politik in Berlin begrenzen, zum Beispiel den Kampf gegen Bodenspekulationen aufnehmen und uns für Mietpreisbindungen einsetzen.
PDS und CDU sollten sich auf der Oppositionsbank bewähren. Eine Ablehnungskoalition zwischen PDS und CDU ist undenkbar. Eine von beiden wird immer zustimmen müssen.
Eine Minderheitsregierung in Berlin zu bilden, bedeutet Mut zu haben und keine Angst vor eventueller Unterstützung durch die PDS. Nachdem die PDS große Teile unserer Programme übernommen hat, ist eine solche Angst völlig unbegründet. Eine Minderheitsregierung zu bilden, bedeutet Selbstbewußtsein zu beweisen, Vertrauen in die Richtigkeit der eigenen Politik zu haben und zu wissen, daß die Bevölkerung sie unterstützt.
In Berlin wird nicht nur Politik für die Stadt gemacht. Die ganze DDR sieht nach Berlin. Was in Berlin geschieht, hat Bedeutung für ganz Deutschland. Es kommt darauf an, hier die Weichen für die Mehrheit der Zukunft zu stellen.
Dazu wünschen wir uns eine mutige und kämpferische SPD.
Berlin, den 9.Mai 1990
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen