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Archiv-Artikel

Nessie wohnt hier nicht mehr

Die alte schottische Loch-Bewohnerin hat Konkurrenz im hohen Norden bekommen

Selma, die im norwegischen See Seljordvatnet in Telemark wohnt, isst gern Menschen

Es ist noch gar nicht so lange her, da tauchte Nessie regelmäßig vom Grund des Loch Ness auf. Mittlerweile hat das Monster sein Erscheinen jedoch völlig eingestellt – was daran liegen könnte, dass es Konkurrenz aus dem hohen Norden bekommen hat.

Denn während Nessie am Ende nur noch als eine Art knuddeliger Flipper mit langem Hals galt, der im Fall seiner Gefangennahme gute Aussichten hatte, als lebende Kinderrutschbahn in irgendeinem Vergnügungspark zu enden, ist die gänzlich ohne Diminutiv auskommende norwegische Selma ein echt böses Viech.

Selma, die im See Seljordvatnet in Telemark wohnt, isst nämlich Menschen, und das schon sehr lange: Der erste schriftliche Bericht über die Ernährungsgewohnheiten des Ungeheuers stammt aus dem Jahr 1750. Der Fischer Gunleik Andersson Verpe wollte damals mit einem anderen Boot im Schlepptau von Ulvenes nach Nes über den Seljord rudern. Mitten auf dem See wurde der Konvoi von einem plötzlich auftauchenden riesigen, schlangenähnlichen Tier attackiert. Der Mann, der im zweiten Boot saß, wurde nie wieder gesehen. Einige Jahre später, 1768, erzählte der renommierte Naturforscher Gunleik Andersson Verpe in seinem naturkundlichen Buch „Beskrivelse over Sillejords Præstegield i Øvre-Tellemarken i Norge“ von Selma, oder zumindest einem ihrer Vorfahren. Das Tier sei „sehr eigenartig und eines der giftigsten überhaupt“, schrieb er, „es geht auf dem Grund herum wie ein Aal, und vor einigen Jahren biss es einem arglos im See herumwatenden Mann den großen Zee ab“.

Weitere Selma-Sightings folgten, die Augenzeugen berichteten übereinstimmend von einem riesigen, schlangenähnlichen Tier, das sich von den umliegenden, eine Million Jahre alten Felsformationen in den See gleiten ließ oder plötzlich aus dem Seljord auftauchte. Auch heute noch wird Selma hin und wieder überraschend gesichtet, was den Schweden Jan-Ove Sundberg im Jahr 1998 erstmals dazu brachte, sich eingehender mit dem Monster zu beschäftigen. Zunächst suchte er den See genauestens ab und stellte fest, dass es dort „genügend Krater gibt, in denen sich ganze Selma-Familien verstecken können“.

An spektakulären Aufnahmen, die sich hinterher als Fake entpuppen, ist Sundberg nicht gelegen. Konkurrierenden Selma-Jägern, die die Nessiesuche aufgegeben haben und sich nun ebenfalls auf die Suche nach dem Riesenwurm machen, auch nicht, wie der Schwede neidlos anerkennt, „wir wollen alle nur die Wahrheit wissen, tricksen kommt nicht in Frage.“ In einem bislang noch nicht ausgestrahlten britischen Film konnte Sundberg Selma übrigens schon begutachten. Ein „sehr muskuläres Tier, acht bis zehn Meter lang, dick wie ein Autoreifen, das Viech ähnelt einer riesigen Anakonda!“

Für seine gerade beendete diesjährige Selma-Jagd benutzte Sundberg erstmals das von ihm ausgedachte System Comet, die „cooperative Monster Eel Trap“, die „groß genug ist, um ein Selma-Baby darin zu fangen“. Bürokratische Hindernisse verhinderten zunächst den Bau der Falle: „Es ist verboten, Seeschlangen zu fangen – das versucht uns jedenfalls der norwegische Staat weiszumachen. Wobei mir völlig unklar ist, wie man eine Spezies unter Artenschutz stellen kann, die noch gar nicht entdeckt ist“, klagt Sundberg, der sich schließlich doch durchsetzte und sein Projekt in Angriff nehmen konnte.

Der von der auf Fischereibedarf spezialisierten Kristiansander Firma InnFisk AS hergestellte Kescher besteht aus einem sechs Meter langen und fünf Meter breiten Metallgitter, das mit einem reißfesten Nylonnetz bespannt ist. Ganz am Ende, in einer separaten Abteilung, schwimmen Lockfische. Das durchdachte Konzept ging jedoch bisher nicht auf und Selma entsprechend nicht ins Netz. Sundberg findet das jedoch ganz natürlich, denn „Selma ist, wie die anderen Monster, die es auf der Welt gibt, äußerst unkooperativ gegenüber allen Versuchen, ihre Existenz zu beweisen, aber ich bin überzeugt davon, dass sie ihre guten Gründe dafür hat“.

Ein Argument, das die Wissenschaftler, die schon seit Jahren stur darauf beharren, dass es im Seljord keine Selmas geben könne, jedoch nicht gelten lassen wollen. Der 50 Kilometer lange und an seiner tiefsten Stelle knapp 150 Meter tiefe See sei viel zu klein, um einem riesigen Monster geschweige denn einer kompletten urzeitlichen Ungeheuer-Familie genug Nahrung bieten zu können, erklären sie.

Dabei übersehen die Gelehrten, dass Selma sich gar nicht von Fischen und Grünzeugs ernährt. Darüber, wie vielen arglosen Elchen, Rehen und Kühen, die nur kurz ihren Durst stillen wollten, das Monster bereits zum Verhängnis wurde, kann nur spekuliert werden – überdies führt die Kommune ganz ausdrücklich keine Statistik über auf mysteriöse Weise verschwundene Haustiere. ELKE WITTICH