: Nekrophilie am Kiosk
■ Über das hemmungslose Geschäft mit dem Tod
Für Epikur war alles ganz einfach: „Der Tod geht uns nichts an“, sagte er, denn „solange wir sind, ist der Tod noch nicht da; aber wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr.“ Heute, so scheint es, geht uns nur noch der Tod etwas an. Die Nekrophilie der postmodernen Gesellschaft wird immer grotesker. An den Kiosken ist sie in ihrer ganzen Hemmungslosigkeit täglich zu bestaunen: Der Sensenmann ist längst zum heimlichen Chefredakteur der Massenblätter geworden. Mit zunehmender Aggressivität werden die Toten und die Halb-Toten von allen Schauplätzen der Welt auf die Titelseiten befördert. Pietät oder auch nur der Respekt vor der Autorität des Todes sind schnell vergessen, wenn ein Star oder Sternchen zu „seinem letzten Auftritt“ auf die Bühne getreten ist. Krankheit, Krebs und Koma, Katastrophen und Killer — das ist der Stoff, aus dem die Schlagzeilen sind.
Der 'Stern‘, der uns schon den toten Uwe Barschel in der Badewanne zum Frühstück serviert hatte, bescherte uns vorweihnachtlich mit einer großen Kennedy-Story samt zweiseitigem Foto des ermordeten Präsidenten John F. — der Mund geöffnet, der Körper durchschossen. Der Tod live auf dem Obduktionstisch. „Das große Sterben — Aids rückt näher“, funkte der 'Spiegel‘ aus seinem Hamburger Bunker. Während die meisten westeuropäischen Länder 1991 erstmals eine Abnahme der Zahl der HIV-Neuinfektionen verzeichneten, mobilisierte das Hamburger Magazin wieder die Ur-Ängste vor Pest und Cholera, rief nach Seuchenrecht und ließ die Skelette klappern. „Exklusiv“ saß der 'Daily Mirror‘ auf der Bettkante des komatösen englischen Boxers Michael Watson, um täglich auf bis zu sieben Seiten von „seinem letzten Kampf“ zu berichten. Auch die Pariser 'Libération' brachte es auf sieben Seiten, um „das letzte Tremolo“ von Miles Davis abzufeiern. 'Bild‘ hatte gerade Fernsehansager Köpke beerdigt, als man Marlene Dietrich aufs Totenbett legte. Ein bißchen früh, denn die Dame ist bei guter Gesundheit. Widerlich? Widerlich! Und ersparen wir uns Roy Black, Heidi Brühl, Walter Sedlmayr usw.
Es lebe der Tod! Noch nie war diese böse Botschaft Francos so lebendig. Das Geschäft mit dem Tod treibt die Umsatzzahlen nach oben und die Reporter in die Sterbehäuser. Gegen die Leichenberge an unseren Kiosken wirkt selbst der Sensenmann von Altötting richtig gemütlich. Und während der Tod immer mehr zur Sensation und immer stärker mystifiziert wird, verliert diese Gesellschaft jedes Gefühl für seine Natürlichkeit. „Der Tod ist keine große Sache“, sagt der Hofrat in Thomas Manns Zauberberg. Noch nie waren wir weiter von dieser Erkenntnis entfernt. Manfred Kriener
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