: Nebel im Herzen
Das Lied wird hin und wieder noch im Radio gespielt, nie jedoch auf fröhlichen Wellen und eher während der Nacht. Nie ist es an einem Sommertag zu hören. Das würde auch nicht passen, denn es handelt von einer Fantasie voller Weltverlassenheit, des Kummers und des nahen Todes.
Ohne musikalische Umstände setzt es ein: „Grau zieht der Nebel / Durch die menschenleere Stadt / Mein Herz ist einsam / Weil es dich verloren hat.“ Schon diese Zeilen deuten an, dass der oder die Fühlende einem Gespinst anhängt. Menschenleere Stadt? Irgendeiner ist immer unterwegs; eine Stadt, in der nichts ist außer Nebel, die gibt es nicht. Alles Einbildung. Und das ist normal, wenn die Liebe geht; dann wecken andere Menschen, vor allem fröhliche, nur den Wunsch, sie zu übersehen.
Tatsächlich verweist die dritte Zeile auf den wahren Zustand des Leidenden: Er (oder sie) hat ihn (oder sie) verloren. Der Sinn wird sichtbar. Im Moment der mächtigsten Enttäuschung, des Verlustes des Geliebten, die heftigste narzisstische Kränkung, die Botschaft: Ich bin nicht mehr bei dir. Kein Wunder, dass es dann heißt: „Das Licht der Laternen / Scheint fahl durch die Bäume / Und grau wie der Nebel / Sind all meine Träume.“
Es scheint keine gütliche Scheidung zu sein, die Sängerin hätte nicht diese Schmerzen, wenn auch sie die Trennung wollte. „Und so wird für mich die Zeit / Zu einer Ewigkeit / Ich warte vergebens / So viel Stunden des Lebens.“ Sie will ja hoffen, auch wenn ihr Stunde und Stunde klarer werden müsste, dass es keinen Zweck hat.
Was für eine Strafe, die Liebe, deren erster Paragraph doch lautet: Ich will von dir abhängig sein, aber es soll nicht weh tun. Er hat den Vertrag gekündigt, weshalb ihr kaum etwas bleibt, als wehmütig zu schreien: „Lalalala lalala lalala“, schließend mit einem fast erstickten Ton, der sich anhört wie „uuuuuu ...“
Zum Ende ihres Chansons, das der Belgier Adamo Mitte der Sechzigerjahre als Erster gesungen hat („Tombe la neige“), murmelt die Sängerin fast beschwörend das, woran sie einzig denken kann: „Grau zieht der Nebel / Durch die menschenleere Stadt / Mein Herz ist einsam / Weil es dich verloren hat“, ehe die Sängerin noch entsetzter singt: „Könnt ich dich doch fragen / Was ist nur geschehen / Dann werde ich dir sagen / Ich kann dich verstehen.“ Verstehen? Eine Tortur, denn der (oder die) Besungene will nicht gefragt werden, von ihr schon gar nicht. In der Liebe gibt es nichts zu verstehen.
So setzt das Orchester mit letzter Kraft zum Finale an, sie ahnt schon, dass sie lange warten wird auf ihren Frühling. Bis dahin wird es an Trost fehlen: „Und so wird für mich die Zeit / Zu einer Ewigkeit / Ich warte vergebens / So viel Stunden des Lebens.“
Schließlich ein Gebet, das nichts fruchtet, und sie weiß es genau: „Lass neu uns beginnen / Wenn die Nebel zerrinnen.“ Ihre Stadt, wann auch immer, wird menschenleer bleiben, der Nebel sich hartnäckig halten in ihrem Kopf. Mit schwachem Timbre ein „Lalalala lalala lalala“, ein markerschütternder Ton auf dem Buchstaben U.
Sie weiß noch nicht, dass mit ihrer Verzweiflung schon die nächste Liebe beginnt. Die Sängerin Alexandra starb ein Jahr nach Aufnahme dieses, ihres Liedes. Bis heute ist ungeklärt, ob ihr Autounfall ein versteckter Selbstmord war. JAN FEDDERSEN
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