Narrativ der verfolgten Russen: Sich als Opfer sehen
„Der Russe ist nun wie ein Jude im Berlin des Jahres 1940“, singt die Band Leningrad. Die Selbststilisierung als Verfolgte befeuert Putins Narrativ.
Das Video erscheint am 10. März, am fünfzehnten Kriegstag. Es heißt „Kein Zutritt“ und stammt von der noch Ende der 1990er Jahre in Sankt Petersburg entstandenen Skacore-Band Leningrad. Lange Zeit galt Leningrad als unangepasst und sogar kritisch. Nun hat die „patriotische Welle“ auch diese Kultband erreicht. Sie singt von einem Völkermord, der sich angeblich anbahnt: von einem Völkermord an Russen in Europa.
Alexander Friedman ist ein aus Minsk stammender Historiker. Er lehrt an der Universität des Saarlandes und an der Universität Düsseldorf.
„Der Russe ist nun wie ein Jude im Berlin des Jahres 1940“, brüllt der extravagante Leningrad-Sänger Sergei Schnurow und spielt dabei offensichtlich auf die Judendeportationen aus der Reichshauptstadt an, die 1941 begonnen hatten: In Europa behandle man heute die Russen wie Hunde; sie seien Menschen zweiter Klasse.
Bald müssten sie möglicherweise spezielle Abzeichen tragen. Und am liebsten würden die Europäer sie verbrennen. Um den Vergleich mit jüdischen Menschen im Nationalsozialismus zu verstärken, lässt Schnurow in seinem Video zwei junge Männer in traditioneller russischer Tracht mit blauen „Judensternen“ auftreten – passend zur russischen Trikolore.
Infamer Song in Kriegszeiten
In Russland erntet Schnurows Song breiten Zuspruch. Manche im Ausland lebende Russen und Russinnen zeigen sich wiederum von seinem „Meisterwerk“ angetan. Die Tatsache, dass der Sänger den nationalsozialistischen Judenmord in perfider Weise verharmlost und dabei Holocaustopfer verhöhnt, wird hingegen kaum registriert.
Als sich die Band Leningrad zu diesem infamen Song verstieg und ihren Ruf somit endgültig ruinierte, dauerte die russische Belagerung der ukrainischen Hafenstadt Mariupol bereits mehrere Tage an. Die Stadt wird rund um die Uhr beschossen, sie ist ohne Trinkwasser, Strom und Heizung.
Am 16. März wird eine russische Bombe auf das lokale Theater abgeworfen, in dem sich Frauen, Kinder und Alte versteckten. Mariupol ist zu einem Sinnbild der schrecklichen ukrainischen Tragödie geworden, die sich tagtäglich auch in Tschernihiw, Charkiw, in der Hauptstadt Kiew und seinen Vororten, im gesamten Land abspielt: Städte werden systematisch zerstört, Zivilisten getötet. Millionen von Menschen mussten ihre Heimat verlassen.
Aber Sergei Schnurow interessiert sich nicht für Mariupol oder Tchernihiw. Ihm geht es um das Schicksal der Russen und um den Russenhass in Europa. Nach dem Kriegsausbruch verstärkten sich tatsächlich antirussische Ressentiments in Deutschland und in Europa. Angesichts des dramatischen Kriegsverlaufs und entsetzlicher russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine werden diese Tendenzen leider eher zunehmen – zur Freude des Kremls, der diese Entwicklungen gezielt aufgreift, um das in Russland inzwischen omnipräsente Völkermord-Narrativ zu untermauern.
Täter-Opfer-Umkehrung
Dieses Narrativ ist nicht neu. Seit Jahren grassieren in Russland die haltlosen Völkermord-Vorwürfe gegen die Ukraine, der Mordaktionen gegen die russischsprachige Bevölkerung im ukrainischen Donbass unterstellt werden. Im Februar nutzte Putin diese Vorwürfe als Vorwand für die militärische Invasion.
Gleichzeitig stellte die Propaganda die Russen und Russinnen als Menschen dar, die vom Westen glühend gehasst, systematisch diskriminiert und bedroht würden. Den USA werden ausgearbeitete Pläne zur Vernichtung der russischen Bevölkerung nachgesagt. Die aufgrund der russischen Aggression gegen die Ukraine verhängten westlichen Sanktionen werden zu einer Kriegserklärung und zugleich zu einem heimtückischen Versuch stilisiert, die russische Nation in die Knie zu zwingen. So sei Russland – und nicht die von Moskau angegriffene Ukraine – in seiner Existenz bedroht und müsse sich gegen den Westen verteidigen.
Die absurde wie zynische Täter-Opfer-Umkehrung und das Völkermord-Narrativ sind zentrale Elemente der Moskauer Desinformationskampagne, bei der Sergei Schnurow und weitere Künstler mitwirken. Die gewählte Strategie geht in Russland auf und bleibt auch in Deutschland nicht ohne Wirkung. Mehr als einen Monat nach dem russischen Überfall auf die Ukraine scheint es immer deutlicher, dass der Kreml die russische Gesellschaft insgesamt konsolidieren konnte, wobei die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung den als „Spezialoperation“ titulierten Krieg – nicht zuletzt beeinflusst von der Hetzpropaganda – unterstützt. Kriegsgegner*innen werden verfolgt, eingeschüchtert oder haben das Land inzwischen verlassen.
Durch das Völkermord-Narrativ konnten die Machthaber den Fokus auf Russland verstellen und die russische Bevölkerung von den dramatischen russischen Verlusten und erschreckenden Ereignissen in der Ukraine ablenken. Von der ukrainischen Tragödie wollen viele Menschen in Russland und Putins Sympathisant*innen in Europa nichts wissen.
Instrumentalisierung des Holocaust
Letztendlich wirkt das Völkermord-Narrativ enthemmend auf Putins Truppen, die – so wie in Mariupol oder in Kiewer Vororten – blutige Spuren hinterlassen und inzwischen für Verbrechen verantwortlich sind, die man in Europa nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ nicht mehr für möglich gehalten hat.
Das von Schnurow in seinem Song aufgegriffene Thema Holocaust wird ins russische Völkermord-Narrativ integriert: Die Russen und Russinnen gelten als „neue Juden“. Die Instrumentalisierung des Holocaust, die sich im aktuellen Krieg beobachten lässt, hat in Russland ohnehin Tradition.
Während der nationalsozialistische Judenmord in der UdSSR wenig beachtet wurde und in der sowjetischen Erinnerungskultur nur eine marginale Rolle spielte, wurde er nach 1991 deutlich intensiver behandelt und unter Putin – im Kontext der rasanten Aufwertung des Zweiten Weltkriegs – gezielt verwendet, um die baltischen Staaten, Polen und vor allem die Ukraine zu diffamieren. Diese Besonderheit führte dazu, dass viele Menschen – vor allem in der russischen Provinz – ein verzerrtes Geschichtsbild haben, wenig über die NS-Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung wissen und dadurch anfällig für Putins Geschichtsmanipulationen sind.
„Ukrainische Erzfeinde“
So ist es keinesfalls verwunderlich, dass die propagandistische Instrumentalisierung des Holocaust mit einem Anstieg des Antisemitismus einhergeht, der sich etwa in Angriffen auf „ukrainische Erzfeinde“ jüdischer Herkunft, insbesondere auf den Staatspräsidenten Selenski, in russischen sozialen Netzwerken manifestiert.
Wie wenig Respekt aber Moskau vor den Opfern des Holocaust und allgemein vor Opfern des Zweiten Weltkriegs tatsächlich hat, wird schon in den ersten Kriegswochen deutlich: Selbsternannte „Befreier von ukrainischen Nazis“ greifen die Holocaustdenkmäler wie in Kiew und Charkiw an und beschießen Synagogen. 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs müssen Holocaustüberlebende aus der Ukraine nach Deutschland oder nach Israel fliehen. Der 96-jährige KZ-Überlebende aus Charkiw, Boris Romantschenko, wird bei einem russischen Bombenangriff getötet.
In Deutschland werden diese Entwicklungen zwar registriert. Das Völkermord-Narrativ und die perfiden Holocaustvergleiche werden jedoch selten reflektiert. Angesichts der deutschen Vergangenheit und des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs gegen die UdSSR ist das Thema für die Politik zu brisant. Letztere zeigt sich zu Recht über antirussische Ressentiments beunruhigt und verurteilt sie. Um die russischsprachige Bevölkerung beziehungsweise aus Russland stammende Menschen in Deutschland vor Anfeindungen zu schützen, werden gleichzeitig undifferenzierte Wunschbilder von einem „Putin-Krieg“ und einem „anderen, den Krieg ablehnenden Russland“ konstruiert.
Dabei werden unangenehme Tatsachen übersehen: Dass der von Putin angezettelte Krieg überwiegend vom russischen Machtapparat unterstützt wird; dass Kriegsverbrechen von einfachen Soldaten verübt werden; dass zahlreiche Menschen in Russland den Krieg unterstützen und vom Völkermord-Narrativ überzeugt sind; dass es auch in Deutschland reichlich Unterstützer*innen dieses Krieges gibt. Besonders Radikale unter ihnen zeigen inzwischen offen ihre Sympathien.
Als die ganze Welt am 3. April empört und fassungslos Bilder und Videos aus dem Kiewer Vorort Butscha sieht, wo die russischen Truppen etwa 340 Zivilisten ermordet haben sollen, findet in Berlin ein prorussischer Autokorso statt, bei dem ein Auto mit dem aufgeklebten „Judenstern“ mit dem Wort „Russe“ und der Frage „Bald auch wir?“ mitfährt. Sergei Schnurows Botschaft ist angekommen im Berlin des Jahres 2022.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste