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Nacktsein genügt nicht

■ Die letzten Premieren des Bremer Schauspiel-Ensembles und Günther Krämers vor dem Umzug nach Köln

Ganze fünf Minuten dauerte die allerletzte Premiere des Bremer Schauspiels: Mitten auf der leeren Bühne, von Kerzen umgeben, ein Haufen, zusammengefügt aus nackten Körpern, eine Körperskulptur. Eine schwarzgekleidete Frau mit rotem Haar und Kerze in der Hand singt ein paar Töne, schweigt: Da atmet das Gebilde ein und wieder aus, hebt und senkt sich im Takt.

Zweimal geschieht das, der Vorhang schließt sich, und als er sich wieder öffnet, liegen die nackten Menschen, laut Programmzettel fast alle Mitglieder des Ensembles, einzeln auf der Bühne, und nicht einmal der zögernde Beifall kann sie zum Leben erwecken. Das Publikum ist verstört: War's das nun, so schnell? Warum verbeugt sich niemand zum Abschied? Leblos und wie blutleer liegen sie dort. Haben wir ZuschauerInnen und KritikerInnen sie ausgesaugt, von ihrem Theaterblut gelebt in diesen fünf Jahren? Wenn sie uns jetzt verlassen, werden wir die nächsten empfangen, gierig wie Vampire?

Ein witziger und kunstvoller Abschied des Bremer Ensembles mit zwei Beckett-Einaktern, den Werner Schroeter zu einem seiner einprägsamen, still-lebenden Bilder arrangierte, eines der Geschenke, die „man nicht ablehnen kann“, auch wenn viele es lieber anders gehabt hätten.

Am Abend zuvor war es vor allem eine Frau, die den Abschied von Günter Krämers Ensemble, das mit ihm nach Köln gehen wird, schwer werden ließ: Traute Hoess als Zimmerwirtin Kathrin in Joe Ortons Stück Seit nett zu Mr.Sloane. Dicklich schlurft sie durch das englische Wohnzimmer in Kittelschürze und karierten Filzlatschen, dann wieder blitzschnell und beweglich wie ein aufgeschrecktes Huhn, naiv und ordinär, betulich und von abgefeimter Herzlosigkeit. Zum Ärger von Vater und Bruder nimmt sie Mr.Sloane auf, macht ihn zu ihrem „Baby“ und zum Vater eines zukünftigen Babys.

Auch Bruder Ed verfällt den Reizen des Mr.Sloane, der posiert wie ein in die Jahre gekommener Strichjunge. Als ob sie seit Jahrzehnten mit niemandem mehr gesprochen hätten, machen beide ihm zuerst Geständnisse über ihre Leben - sie über ihr uneheliches Kind, das sie nicht behalten durfte, Ed über seine männliche Jugendliebe, den Vater dieses Kindes. Beide nutzen Sloanes krude Sexualität für die eigenen verdrehten und lange unterdrückten Lüste, und ohne daß viel von Lust zu bemerken wäre, lassen sie seine Grobheiten und Betrügereien über sich ergehen, hoffend, er gehöre ihm oder ihr allein. Opfer sind sie so wenig wie er; am Ende vertuschen sie den Mord an „Vatti“, den Sloane erschlägt, weil er ihn als Mörder zu erkennen glaubt, und kommen überein, sich den jungen Mann zu teilen, jeweils buchhalterisch genau für ein halbes Jahr.

1964, als es entstand, war das Stück des Theaterrebellen und Bürgerschrecks Joe Orton (dessen Lebensgeschichte Stephen Frears in Prick up your Ears verfilmte) eine Provokation, ein Skandal. Die Sexualisierung seiner Figuren war gerichtet gegen die verklemmte Moral seiner Zeit, und Homosexualität war nicht nur auf der Bühne ein absolutes Tabu. Jetzt, 1989, zündet der Funke nicht mehr so recht, und das liegt sicher nicht nur daran, daß der Mr.Sloane dieser Inszenierung (Franz-Joseph Dieken) kein Widerpart für das unheilige Geschwisterpaar ist, nicht nur wegen fehlender erotischer Ausstrahlung, sondern weil er schauspielerisch nicht mithalten kann. Nackte Körperlichkeit allein schafft nun einmal keine Spannung.

Zwar wäre Sexualität als Schlüsselbild für Gewalt, gesellschaftliches Elend und Beschädigungen virulent genug, man denke nur an die Zahl der Vergewaltigungen in der Familie! Doch das Fünfziger-Jahre-Ambiente mit künstlichem Kamin und Gummibäumen tut ein Übriges, um die Boshaftigkeit der Vorlage ins Vordergründig-Spießige abrutschen zu lassen. Heftige Scheingefechte heizen ihre zynische Kälte zu lauwarmem Mittelmaß auf, und zum Ausgleich schwitzen sich die Schauspieler, mit Ausnahme von Traute Hoess, recht und schlecht naß, auf Kosten wirklicher Intensität. Und so schiebt sich vor die Verrenkungen des Mr.Sloane wieder das stille Abschiedsbild, erdacht von Samuel Beckett, zusammengesetzt aus den Körpern der SchauspielerInnen im leeren Raum: ein einziger Atemzug des ganzen Ensembles, dramatischer als ein ganzes Stück - wie tröstlich. Und wer sagt, daß wir zu Mr.Sloane nett sein sollen?

Lore Kleinert

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