: Nacktes Streiflicht
Heute „SZ“-Glosse ausnahmsweise ausgelagert
Kaum noch jemand kennt oder liest das „Streiflicht“, jene verschnarchte Glosse auf der Seite eins der Süddeutschen Zeitung. Ein Schmunzelstück, das jeden Tag im weiten Bogen bei Adam und Eva beginnt, im Vorbeischlurfen Martin Luther erwähnt, dann ein geflügeltes Wort unbedingt von Goethe aufgreift, um mit einer seichten Pointe aus der Wortspielhölle zu enden, die auf keinen Fall die müde Leserschaft des bayerisch-katholischen Familienblatts verletzt.
Ausgangspunkt ist immer eine Tage alte Tickermeldung – wie zum Beispiel diese von gestern: „Nackte G7-Chefs wären ‚widerlicher Anblick‘“, erklärte Wladimir Putin dpa zufolge am Mittwoch, nachdem der Brite Johnson und der Kanadier Trudeau auf dem G7-Gipfel in Elmau über ein bekanntes Foto von Putin gewitzelt hatten, man müsse bei der Hitze in Bayern mit nacktem Oberkörper herumreiten.
Der Kremlzar? Nackt? Jetzt streiflichten wir mal: Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der ungeheuer viel auf neue Kleider hielt. So beginnt „Des Kaisers neue Kleider“, das Märchen von Hans Christian Andersen. Der Kaiser, also Zar, heißt heute Putin. Immer noch ist die Erzählung von Bedeutung, denn der kleine Junge aus der Mär ist die Nato. Sie allein erkennt wie er, dass der Kaiser im Kreml nackt ist. Wie sagte schon Goethe, dem die dänische Fabel wohl behagte? „Der wahre Mensch ist der nackte Mensch.“ Ist Putin noch ein Mensch? Nackt und wahr?
Nicht, wenn wir einen modernen Romancier wie Norman Mailer zu Rate ziehen. Mailer stellt uns in „Die Nackten und die Toten“ vor ein Dilemma. Dass der nackte Putin eine reitende Leiche im Krieg ist. Undenkbar, dass ihm jemals wieder das Glück, das bekanntlich auf dem Rücken der Pferde liegt, zuteil wird …
Nein! Nein! Nein! Dieses ohrenbetäubende Schnarchen, dieses schnorchelnde Kluten, wie es nach dem „Streiflicht“-Redakteur in der Humorbranche genannt wird, werden wir nie auf der Wahrheit hinbekommen. Erst recht keine seichte Pointe. Wir würden dem nackten Putin eher den offenen Arsch aufreißen. Fürnehm nimmt der süddeutsche Dämmerhumor seinen matten Lauf. Und damit: Gute Nacht.
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