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Nackte junge Männer in schmutzigen alten Lokomotiven Von Ralf Sotscheck

Auch wenn Filmregisseur Danny Boyle „Trainspotting“ bekannt gemacht hat, so bleibt es doch ein Hobby für Bankgehilfen mit kompletter U2-Sammlung in einer Schrankwand aus Mahagoni-Imitat. Das sagen jedenfalls die echten Eisenbahnfans, die auf „Gricing“ stehen. Beide Freizeitaktivitäten haben zwar etwas mit Lokomotiven zu tun, aber da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf: Trainspotter sind äußerlich ziemlich normal scheinende Menschen, die am Ende eines Bahnsteigs auf einem Klappstuhl sitzen und in einem dicken Trainspotter-Fachbuch die Nummern der vorbeifahrenden Lokomotiven ankreuzen. Darüber können Gricer nur lachen. Bei ihrem Hobby geht es nämlich darum, die Lokomotiven im Depot mit Selbstauslöser zu fotografieren – während sie selbst nackt im Führerhaus stehen.

Sie haben sich viel vorgenommen: In Großbritannien sind rund 3.500 Lokomotiven unterwegs. Allerdings gibt es für die Gricer eine klare Rangordnung. An der Spitze stehen ausgemusterte Loks, die im Depot auf ihre Verschrottung warten. Es folgen Diesel- und Rangierloks, während Frachtzüge und der Eurostar abgeschlagen am Ende der Beliebtheitsskala liegen.

Das exzentrische Hobby ist nicht ungefährlich. Die Eisenbahnpolizei und private Sicherheitsfirmen haben keinerlei Verständnis dafür. Aber die Gricer sind nicht auf den Kopf gefallen. Sie tarnen sich mit den leuchtend orangenen Westen der Eisenbahnarbeiter, um in den Depots nicht aufzufallen oder von einem Objekt ihrer Begierde überrollt zu werden. Sind sie endlich am Ziel angelangt, reißen sie sich die Weste samt der übrigen Klamotten vom Leib und drücken auf den Auslöser. Dann müssen sie die Beine in die Hand nehmen.

Der typische Gricer ist männlich, Ende Zwanzig und hat eine Freundin. Wenn er nicht nackt auf einer Lokomotive steht, sitzt er angekleidet in Newbury im Baum und protestiert gegen eine Umgehungsstraße oder schleicht in Yorkshire durch die Wälder und sabotiert die Fuchsjagd. Gricer sehen in dem nackten Besteigen einer Lokomotive durchaus eine politische Handlung, weil sie Uniformierte foppen. Sie sind gegen die unaufhaltsame Privatisierung der Eisenbahn. „Totale Scheiße“, sagte einer von ihnen zum Observer, „die Loks sind dann nicht nur allesamt ausländisch und häßlich, sondern darüber hinaus in fürchterlichen Farben angestrichen und nach den Ehefrauen der Eigentümer benannt.“ Gricer haben sogar ihre eigene Musik: Die Gruppe „Eastfield“ hat sich nach einem Eisenbahndepot benannt, „Blyth Power“ nach einem Zug. Deren Drummer, behauptete der Observer, könne auf seinem Schlagzeug jede Lokomotive Großbritanniens imitieren – „zum Beispiel eine Lok der 37er Klasse, wie sie in den Bahnhof Euston einfährt“. Und es gibt auch ein Fanzine, Dab In, mit den schönsten Fotos nackter junger Männer bei der Ausübung ihres Hobbys. „Jeder braucht einen Grund, um zu leben“, sinnierte einer der Gricer. Wie man's nimmt: Manche Leute sammeln Teebeutelanhänger oder Überraschungseier, andere wischen hinter ihren Schränken Staub oder werden britischer Premierminister. Aber nackt auf eine Lokomotive klettern? Dann schon lieber U2-Platten in einer Schrankwand aus Mahagoni-Imitat sammeln.

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