: Nachschlag
■ Toki Doki Jidou aus Tokio im Hebbel-Theater
Manchmal reichen farbige Tücher, um eine Bühne zum Schauplatz eines mächtigen Dramas werden zu lassen, manchmal reicht ein Klappern von Löffeln im Suppenteller, um das verzweifelte Glück der Kleinfamilie in Form einer Sonate zu beschreiben: Theater ist so oft eine Frustration, ein Leerlauf von Profilneurotikern und eine Stehparty von Gelangweilten im Foyer – und dann ist es wieder dieses unvergleichliche Wunder des Gelingens. Wenn Toki Doki Jidou, das etwa zwanzigköpfige Ensemble aus Japan, spielt, ereignet sich das Wunder praktisch jede Minute von neuem und ist dann eben gar keines mehr, sondern das jederzeit nachvollziehbare Ergebnis äußerster szenischer Präzision.
„15 Minuten“, so der Titel, genügen vor der Pause, etwa eine Stunde danach, um „29.000“ Tage des japanischen Arbeitslebens zu durchleuchten, so transparent werden zu lassen wie – beispielsweise – die Trommelfelle, auf die von hinten Verkehrszeichen als allgegenwärtige Orientierungscodes projiziert werden. Das ist nur eine der zahllosen verblüffend einfachen und wirkungsvollen Ideen. Lehrstücke sind sie alle für so viele, die sich in den letzten Jahren um multimediale Bühnenaktionen bloß bemüht haben. Leider war nur während der zwei Tage des Gastspiels im Hebbel-Theater zu studieren, was ein solches Konzept tatsächlich bedeuten kann: bei Toki Doki Jidou kann offenbar nur mitspielen, wer damit Ernst macht, tatsächlich also in eigener Person die sonst getrennten Sparten vereinigt: Tänzerinnen und Tänzer singen komplexe Chorsätze, spielen minimalistischen Freejazz, auf Saxofonen, Trompeten und Posaunen, schlagen mit samuraischer Synthese von Wucht und schwereloser Eleganz auf Trommeln, sprechen vollendet komische Parodien auf Vorabendfernsehserien, agieren mit Kunstobjekten, Skulpturen, Puppen und Masken so selbstverständlich wie mit ihrem Körper, dem sie gelegentlich auch noch ein bißchen halsbrecherische Akrobatik zumuten.
Nichts davon ist indessen bloß artistischer Selbstzweck, denn das Ensemble hat mit seiner Universalkunst die eigene, die moderne japanische Gesellschaft so genau kennengelernt, daß es sie nun in exakt denunzierende Bilder fassen kann. Sie zeigen eine postfaschistische Welt des Funktionierens, ein beständiger Terror, der traditionelle Werte, Arbeit, Feste, Liebe, Familie und Freizeit, so sehr und so gleichmäßig durchzieht, daß er gar nicht mehr eigens ausgeübt werden braucht. Der letzte Zweck der atemraubenden Perfektion dieses Ensembles könnte daher die dialektische Warnung vor eben dieser makellosen Kunst sein. Niklaus Hablützel
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