: Nachschlag
■ „Different Meetings“ und Tanzimprovisationen bei X 94
Die Tanzsituation in Berlin: Eine traurige Angelegenheit, über die schon soviel gejammert wurde, daß keiner mehr ein Wort darüber hören will. Die drei klassisch orientierten Ballettensembles der Stadt mit ihren ignoranten Intendanten, die sich der Notwendigkeit einer Erneuerung stur verschliessen etc. Der Choreograph Holger Bey vom Theater unterm Dach reagiert auf die festgefahrenen Zustände mit einem erfrischenden Blick. „Different Meetings“, ein Stück für zwei Schauspieler und fünf TänzerInnen, persifliert „Schwanensee“, daß es sich gewaschen hat. Ein hinter Mikrophonen verbarrikadierter Politiker, dem Zitate des amtierenden Kultursenators in den Mund gelegt werden und ein Chips fressender Bürger, beide auf höchst bizarre Stühle an den Seiten des Bühnenportals postiert, kommentieren die Versuche der Tänzer, den guten alten „Schwanensee“ zu modernisieren. Die wahre Schönheit, sie wird direkt vorgeführt: Ein kleiner Schwan boxt den anderen, um allein auf der Bühne zu stehen und die gute Odette rudert ohne Unterlaß mit ihren zarten Armen. Eine 5.012.-Spieluhrversion, mechanisch abgenudelt – die wahren Werte haben Staub angesetzt und ein wenig überzogenes Pathos reicht, um das Publikum zu beglücken. Mit der Modernisierung klappt es nicht so richtig und der Chips-Esser sieht sich schließlich genötigt, die Darsteller mit einer Pistole brutal von der Bühne zu pusten. Nach einem furiosen Anfang wird es im letzten Drittel so enervierend, daß man dankbar ist, als das Ganze blutig endet. Vielleicht war es ja genauso gemeint.
Völlig anders der erste Teil des Abends. Ka Rustler von der Tanzfabrik und Lisa Schmidt (ehemals Mitglied der Trisha Brown Company) zeigten eine Improvisation, in der die Bewegungen nicht vom Kopf, sondern vom Körper ausgehen: Eine ernsthafte und trotzdem ungeheuer leicht dahinfließende Meditation über die Möglichkeiten von Bewegung. Hände werden so heftig aneinander gepreßt, bis sich der unter Spannung stehende Körper von selbst in Bewegung setzt, sich ineinander verschlingt und die Gliedmaßen wellenförmig ineinander dreht; das Gewicht des Gegenübers schleudert einen in den Raum hinaus oder läßt einen an dem anderen Körper hinuntergleiten. Als das Licht langsam verlöscht, drehen sich die Tänzerinnen versunken weiter in- und umeinander: Keine Vorführung, sondern die Beschreibung eines Zustands, der kein Ende kennt – die Energien des Körpers als ein ewiger Fluß. Michaela Schlagenwerth
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen