Nach dem Anschlag von Magdeburg: Wenn Warnungen verhallen
Seit Jahren gab es Hinweise auf Gewalttaten des mutmaßlichen Attentäters von Magdeburg. Die Behörden stoppten ihn nicht. Wie konnte das passieren?
Bei dem Stichwort Magdeburg habe es in ihm rumort, sagt Gavitt der taz. Tatsächlich kennt Gavitt den Täter, Taleb Al Abulmohsen. Und: Bereits vor über einem Jahr hatte Gavitt versucht, die deutsche Polizei vor ihm zu warnen.
Gavitt ist Unternehmensberater und setzt sich in seiner Freizeit für Frauen ein, die aus muslimischen Ländern wie Saudi-Arabien fliehen wollen. Es ist eine lose vernetzte Szene an Unterstützer*innen, in der sich auch Taleb Al Abdulmohsen bewegte – und auffiel. Seit Jahren sprach er offene Gewaltdrohungen aus, in denen er etwa andeutete, dass er wahllos Deutsche umbringen könnte. Mehrere Menschen meldeten das bei der Polizei. Gavitt dachte, das habe etwas genutzt – bis zum Freitag vor Weihnachten.
Worüber Nachrichtenportale rund um den Globus an jenem 20. Dezember berichten, ist eine Tat, die etliche Fragen aufwirft: Ein Ex-Moslem, der einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt verübt? Ein Facharzt für Psychiatrie? Ein anerkannter Asylbewerber, der gegen Deutschlands angeblich zu offene Migrationspolitik hetzt?
Strafanzeigen gegen Stadt und Polizei
Um kurz nach 19 Uhr, vier Tage vor Heiligabend, drückt Taleb Al Abdulmohsen aufs Gaspedal eines gemieteten SUV und fährt in einer Budengasse auf dem Weihnachtsmarkt auf die Besucher*innen zu. Fünf Menschen kommen ums Leben, vier Frauen und ein neunjähriger Junge. Abdulmohsen wird an einer Kreuzung festgenommen. Er nutzte wohl eine Lücke, die als Rettungsweg freigehalten und durch ein Polizeifahrzeug versperrt sein sollte.
Wegen möglichen Fehlverhaltens wurden gegen die Stadt und die Polizei mittlerweile Strafanzeigen gestellt. Sicherheitskonzept, Einsatzplanung und Umsetzung könnten Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen werden. Auch der Bundestag und der Landtag Sachsen-Anhalt werden sich mit der Tat beschäftigten.
Mindestens ebenso viele Fragen aber werfen die Warnungen auf, die es im Vorfeld vor dem Täter gab: Warnungen des saudischen Geheimdienstes, Meldungen von Bürger*innen an Behörden, Anzeigen, Beschwerden. Seit Monaten, seit Jahren.
Auch James Gavitt versuchte die Polizei vor Abdulmohsen zu warnen. Das war vor über einem Jahr. Auf der Plattform X hatte Abdulmohsen mit Gewalt gedroht, schrieb in seinem Profil etwas von „baldiger Rache“ und dass „etwas Großes in Deutschland passieren wird“. Eine Frau hatte Gavitt darauf aufmerksam gemacht. Er habe die Polizei in Sachsen-Anhalt über ein Online-Kontaktformular informiert, sagt Gavitt, nannte Details zu Abdulmohsen und zitierte die Drohungen. Ein Screenshot eines ausgefüllten Online-Formulars liegt der taz vor. Er wurde am 3. Dezember 2023 erstellt.
Polizeibesuch zu Hause, ohne Konsequenzen
„Es gab auch ein direktes persönliches Gespräch mit der deutschen Polizei“, sagt Gavitt. Er habe damals eine Bekannte in Deutschland gebeten, mit der Polizei zu reden. Am 2. Dezember 2023 habe sie sie informiert. „Die Polizisten kamen persönlich zu ihr nach Hause.“ Sie habe ihnen Screenshots von Abdulmohsens Drohungen gezeigt, die Polizisten hätten Kopien angefertigt.
Aber: Weder Gavitt noch seine Bekannte hörten danach wieder etwas von der Polizei – bis zum Anschlag am 20. Dezember 2024.
Die Bekannte von Gavitt, die in Deutschland mit der Polizei sprach, ist die Aktivistin und Publizistin Rana Ahmad. Sie selbst floh 2015 aus Saudi-Arabien nach Deutschland und setzt sich seitdem für andere Frauen ein. 2017 gründete sie die Säkulare Flüchtlingshilfe, 2018 wurde sie mit ihrer Autobiografie berühmt und schaffte es auf die Bestsellerlisten.
Aus Saudi-Arabien zu entkommen, ist für Frauen besonders schwierig. Unterstützer*innen tauschen weltweit Informationen aus. So lernte Gavitt Ahmad kennen. Und beide kennen daher auch Abdulmohsen, der sich ebenfalls seit Jahren für flüchtende Frauen aus Saudi-Arabien engagierte.
Extrem übersteigerter Egozentrismus
„Er hat mit seinen Informationen wirklich geholfen“, sagt Gavitt. „Das einzige Problem mit Abdulmohsen war, dass er immer den Ton angeben und im Mittelpunkt stehen wollte.“ Er sei wie besessen gewesen von Rana Ahmad und ihrer Organisation. „Es hat ihn wahnsinnig gemacht, dass sie so große Aufmerksamkeit bekam“, sagt Gavitt. Er interpretiert die Tat weniger als politisch motiviert denn als Ausdruck eines extrem übersteigerten Egozentrismus: „Er ist ein Psycho.“
Die Obsession für Rana Ahmad und andere lässt sich bis heute auf Abdulmohsens Profil auf X nachvollziehen. Sowohl in einem Post vom August 2024, den er anpinnte, wie auch in Videos, die ungefähr zum Tatzeitpunkt veröffentlicht wurden, erwähnt er Ahmad. Er bringt wilde Anschuldigungen vor und paart sie mit Verschwörungstheorien.
Botschaften, in denen er Gewalt androht, veröffentlichte er bereits früher. Und neben Gavitt und Ahmad meldeten das auch andere bei der Polizei. Vor über einem Jahr, am 20. August 2023, fragte Abdulmohsen in arabischer Sprache seine Follower auf X: „Würden Sie mir verübeln, wenn ich aufgrund dessen, was Deutschland gegen die saudische Opposition unternimmt, willkürlich 20 Deutsche töten würde?“
Eine Frau, die den Beitrag liest, ist besonders alarmiert. Gegenüber der taz stellt sie sich mit dem Nachnamen Al-Tamimi vor und möchte aus Sorge um ihre Sicherheit keine weiteren persönlichen Details in der Zeitung veröffentlicht sehen. Al-Tamimi spricht kein Deutsch, aber versucht aus dem Ausland die deutschen Behörden zu informieren, darunter das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). „Es begann am 26. September 2023“, erklärt Al-Tamimi der taz. „Ich habe das Bamf und die Berliner Polizei auf X kontaktiert, ebenso die Polizei Sachsen-Anhalt auf Instagram.“
„Bitte, irgendjemand muss etwas tun“
Screenshots von ihrem Kontakt mit den deutschen Behörden lesen sich wie aus einem Kafka-Roman. Gegenüber dem Bamf teilt Al-Tamimi demnach im Chat einen Link zu dem Post, in dem Abdulmohsen andeutet, er könnte 20 Deutsche töten. Sie listet Details zu seinem vollen Namen auf, seinen Wohnort, sein Geburtsdatum und schreibt: „Können Sie bitte antworten? Er ist gefährlich und könnte jemanden töten.“
Den Screenshots der Unterhaltung zufolge, die der taz vorliegen, antwortet das Social Media Team des Bamf am 27. September 2023 mit einem Standardsatz auf Englisch: „Hallo, wenn Sie ein Verbrechen melden wollen, ist es am besten, wenn Sie die Polizei direkt kontaktieren.“ Dazu verschickt das Team einen Link zur Internetwache der Polizei Berlin.
Mit der Polizei Berlin chattet Al-Tamimi auf Englisch. Sie erklärt, dass sie dem Bamf eine E-Mail und Direktnachrichten geschickt, aber bislang keine Antworten erhalten habe. „Bitte, irgendjemand muss etwas tun.“ Laut den vorliegenden Screenshots der Unterhaltung heißt es daraufhin von der Polizei Berlin: „Sorry, wir sind die Polizei von Berlin. Wir können Ihnen an diesem Punkt auch nicht weiterhelfen. Bitte kontaktieren Sie die Polizei in Magdeburg.“
Der Polizei in Sachsen-Anhalt schreibt Al-Tamimi dann auf Instagram. „Die haben gar nicht geantwortet“, sagt sie der taz.
Informationen zu Drohungen seit 2015 beim BKA
Die Polizeiinspektion Magdeburg antwortete auf eine Nachfrage der taz zum Umgang mit den Warnung, man könne die Anfrage „aus Gründen derzeit laufender Ermittlungen nicht beantworten“. Die Polizei Berlin erklärte noch am Tag nach dem Anschlag zu Screenshots der Unterhaltung: „Zum jetzigen Zeitpunkt können wir diese Hinweise nicht bestätigen und auch einen Fake nicht ausschließen. Die Prüfung hierzu dauert an.“ Das Bamf bestätigte, dass es den Hinweis auf Abdulmohsen gab. „Da das Bundesamt keine Ermittlungsbehörde ist, wurde die hinweisgebende Person, wie in solchen Fällen üblich, direkt an die verantwortlichen Behörden verwiesen.“
Zu dem Zeitpunkt Ende 2023, als Al-Tamimi, Gavitt und Ahmad die Polizei vor Abdulmohsen warnen, muss sein Name den Sicherheitsbehörden längst bekannt sein. Auch als möglicher Gefährder: Das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern versicherte gegenüber der taz, am 6. Februar 2015 Informationen zu seinen Drohungen im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum aller Sicherheitsbehörden an das BKA übermittelt zu haben.
Dem ging eine Auseinandersetzung Abdulmohsens mit der Ärztekammer in Mecklenburg-Vorpommern bereits im Jahr 2013 voraus, bei der er einer Referentin in einem Streit gedroht hatte, dass „etwas Schlimmes“ mit „internationaler Bedeutung“ geschehen werde. Explizit soll er auf den islamistischen Anschlag in Bosten in den USA verwiesen haben, der damals gerade passiert war.
Der taz liegt ein Urteil vom April 2013 vom Amtsgericht Rostock vor, in dem Abdulmohsen deshalb wegen „Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung eines gemeingefährlichen Verbrechens“ zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt wurde. Es gab eine Durchsuchung und ein Jahr später eine Gefährderansprache. Laut Landesinnenministerium fanden sich damals aber keine Hinweise auf eine Anschlagsplanung.
„Kein schlechtes Gewissen“
Aber Abdulmohsen machte weiter. In Stralsund drohte er 2013 Richtern und 2014 einer Sozialbehörde. Jahre später, im August 2023 drohte er der Staatsanwaltschaft in Köln im Zuge eines Verfahrens, dass er „kein schlechtes Gewissen“ habe für „Ereignisse, die in den nächsten Tagen passieren werden“. Daraufhin kam es in Sachsen-Anhalt zu einer Gefährderansprache.
Im November 2023 wies auch der saudi-arabische Geheimdienst mehrere deutsche Sicherheitsbehörden auf gewaltandrohende Postings von Abdulmohsen hin. BKA-Präsident Holger Münch sagt, man habe diese an die Polizei Sachsen-Anhalt weitergegeben, aber die Äußerungen seien letztlich zu „unspezifisch“ gewesen. Als Extremist oder Gefährder wurde Abdulmohsen bei deutschen Sicherheitsbehörden nicht geführt.
Der Extremismus-Experte Armin Pfahl-Traughber ist mit einer Vorverurteilung der Behörden dennoch zurückhaltend, vor allem im Nachhinein: „Leider findet man im Internet in Hülle und Fülle derartiger Drohungen. Es ist immer sehr schwierig auszumachen, ob sich eine konkrete Tat ankündigt oder hier lediglich verbale Hassbotschaft abgesondert werden.“ Bei vielen Taten habe es zuvor einschlägige Bekundungen gegeben, was in der Rückschau dann für eine innere Konsequenz für eine Tat stehe. Meist bleibe es aber bei den verbalen Bekundungen. „Insofern ist sowohl die inhaltliche Deutung wie die richtige Reaktion nur schwer einschätzbar.“
Auch Florian Hartleb, Forschungsdirektor beim Europäischen Institut für Terrorismusbekämpfung und Prävention in Wien, ist bei der Frage nach Verfehlungen durch die Behörden vorsichtig. „Es ist mir zu populistisch, jetzt sofort zu sagen, die Behörden hätten versagt.“ Immer müsse abgewogen werden, ob eine Drohung ernst zu nehmen sei. „Gerade bei sogenannten ‚Einsamen Wölfen‘, also Tätern, die bei der Tatausführung alleine handeln, ist die Einschätzung der Gefahr oftmals schwierig, wenn die Täter nicht offensichtlich in ein terroristisches Netzwerk eingebunden sind.“ Hinzu komme, dass sich im Fall von Abdulmohsens auf den ersten Blick ein sehr widersprüchliches Bild ergebe, das aus einem klassischen Raster herausfalle. „Es gilt abzuwarten, was die Ermittlungen ergeben“, sagt Hartleb.
Wenn man mit James Gavitt spricht, hört man jedenfalls, dass er sich im Nachhinein Vorwürfe macht, nicht mehr unternommen zu haben. „Ich dachte, indem wir die Polizei informierten, hätten wir unseren Teil getan.“ Er hofft nun, dass egal, was bei den Behörden schief gelaufen ist, solche Warnungen künftig nicht verhallen.
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