NS-Geschichte in Weimar: Die Barbarei nistet in der Kultur
Manche würden Weimar gern auf die deutsche Klassik reduzieren. Doch die Erinnerung an das KZ Buchenwald gehört genauso zur Stadtgeschichte.
Das Lager Ettersberg/Post Weimar war wie alle KZ-Hauptlager nach dem Ort benannt, an dem es 1937 errichtet wurde. Wie auch Bergen-Belsen, Dachau, Auschwitz. Dagegen aber erhob die nationalsozialistische Kulturgemeinde in Weimar Einspruch. Sie protestierte bei Heinrich Himmler. „Nicht gegen das KZ“, wie Volkhard Knigge berichtet, „solche Lager hielt man für notwendig, aber bitte mit einem anderen Namen. Denn Ettersberg steht doch für Goethe.
Es beleidige den Dichter, wenn die in das Lager ausgesonderten ’Gemeinschaftsfremden‘, wenn die angeblich aus politischen oder rassistischen Gründen Minderwertigen, wenn dieser Abschaum mit Namen des Dichters in Verbindung gebracht würde.“ Und so wurde für das Lager ein eigener Name erfunden, Buchenwald, erzählt Volkhard Knigge, der seit 1994 Direktor der Gedenkstätte Buchenwald ist.
Eine Viertelstunde dauert es mit dem Bus von Weimar, dem Kernort der deutschen Klassik, und man befindet sich in dem ehemaligen Konzentrationslager. Von 1937 bis 1945 war das Lager Deportationsort für 270.000 Menschen aus ganz Europa.
Über 50.000 Gefangene wurden hier erhängt, erschossen, durch medizinische Experimente ermordet, in den Selbstmord getrieben oder starben an Hunger oder Krankheit. Gemeinsam für alle Gefangenen war, dass sie unendliche Leiden über sich ergehen lassen mussten. Die Gedenkstätte erinnert an diese Menschen und nennt Ursachen der Verbrechen.
Das Gewissen von Weimar
In der Stadt gibt es Leute, die den Direktor Knigge „das Gewissen von Weimar“ nennen. Das kann nicht anders sein. Wenn man jeden Morgen das eigene Büro in einem ehemaligen SS-Offiziersgebäude betritt, geht man direkt zur Sache.
Auf die Frage, warum Weimar, die Wahlheimat von Heroen der deutschen Klassik wie Goethe und Schiller, als Standort für ein Konzentrationslager ausgewählt wurde, antwortet Knigge: „Weil die Stadt, längst Hauptstadt des NS-Mustergaus Thüringen, gerne ein SS-Standort sein wollte und auch der SS die Stadt lieb war. Man muss es mit den Augen der Zeit betrachten: Ein so großer SS-Bereich war nicht nur ein Wirtschaftsfaktor, er war auch ein Prestigefaktor – keine Belastung.“
Volkhard Knigge fährt fort: „Es gibt zwei Probleme mit Weimar und Buchenwald. Das erste wäre, über Weimar zu sprechen ohne Buchenwald. Das zweite wäre, in einem falschen Antagonismus über Weimar und Buchenwald zu sprechen und es sich damit zu leicht zu machen nach dem Motto: Dort die alte Kulturstadt mit ihrer großen humanistischen Kultur und da eine Art unerklärlicher Betriebsunfall, der zwölf Jahre gedauert hat.
Hier die Kultur – da die Barbarei. Man muss leider sagen, dass die Barbarei in der Kultur nistet. Sie ist nicht das Andere der Kultur, sie ist auch in ihr, und dafür steht die Weimarer Geschichte konkret und exemplarisch.“
Eine janusköpfige Angelegenheit
Der Historiker nennt Weimar eine Doppelstadt, die janusköpfige Stadt Weimar-Buchenwald. Daraus folgt: Wenn man sich nur mit Weimar als Idylle beschäftigt, macht man es sich nicht nur zu leicht, man macht es sich auch zu langweilig.
„Wir sind Historiker, wir sind keine Metaphernschöpfer, uns interessiert die konkrete Geschichte,“ wie Knigge es ausdrückt. „Die konkrete Geschichte Weimars ab spätestens 1890 hat sich so entwickelt, dass die gute Nachbarschaft von Konzentrationslager und Stadt kein unerklärliches, verblüffendes Phänomen ist.“
Infolge der Reichsgründung 1870/71 gewinnt ein spezifisch deutscher, mit Weimar eng verbundener Kulturbegriff in Deutschland an Macht. Er wendet sich gegen Zivilisation und Demokratie, wie sie sich etwa mit dem Frankreich der Revolution von 1789 verbinden. Wilhelminischer Machtstaat und „kultureller Illiberalismus“ (Fritz Stern) sind eng miteinander verbunden.
„Kultur“ steht über der Demokratie als „Herrschaft des Pöbels“. „Der anschwellende Nationalkult um Goethe, Schiller, Weimar, der Mythos Weimar dient als Beweis, und auch ein maßgeblicher Teil der städtischen Elite denkt so. Kulturdünkel, völkischer Nationalismus, Antisemitismus haben hier einen guten Nährboden,“ sagt Volkhard Knigge.
Der Mainstream ging in die falsche Richtung
Die Jahre 1920 bis 1930 zeigen sich Knigge als „nächste Etappe auf dem Weg zur späteren guten Nachbarschaft von Stadt und Lager“. 1924/25 übernahm eine offen rechts und antidemokratisch ausgerichtete Landesregierung die Macht. Eine Folge: Die Austreibung des Bauhauses aus Weimar, Symptom für den Kampf gegen die ästhetische und politische Moderne in Deutschland. 1929/30 herrschte die erste Landesregierung unter Einschluss der NSDAP.
Weimar/Thüringen wird nun zum Erprobungsfeld für nationalsozialistische Kultur- und Innenpolitik. Der Volksbildungs- und Innenminister Frick von der NSDAP nimmt in Weimar den staatlichen Kampf gegen „entartete Kunst“ vorweg mit seinem „Erlass wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“. Er macht den rassistischen Vordenker Hans F. Günther zum Professor für Sozialanthropologie in Jena. Es gab Alternativen zu dieser Entwicklung, aber der Mainstream ging in die falsche Richtung.
In der Dauerausstellung der Gedenkstätte hängen Auszüge des Telefonbuchs Weimars zur Zeit des Lagers. Dessen Kommandant Karl Koch steht da mit Telefonnummer als SS-Standartenführer Buchenwald. Direkt darunter die Nummer von Louis Koch, der eine Kaffeerösterei und Feinkosthandlung am Frauenplan besaß, wo auch Goethes Wohnhaus liegt. Es ist unmöglich zu sagen, dass man vom Lager gar nichts gewusst hat.
„Die Grenzen eines Lagers wie Buchenwald zu seiner Umwelt waren durchlässig. Das Lager war keine abgeschottete autarke Welt. Behörden waren an seinem Funktionieren beteiligt. Bis 1940 wurden die Toten im städtischen Krematorium unweit der Fürstengruft mit den Sarkophagen der Dichter verbrannt. Deutsche Zivilarbeiter arbeiteten neben den Häftlingszwangsarbeitern in den Rüstungsfabriken im Lager.
Die „Buchenwaldisierung“ Weimars
In der Stadt wurden Häftlingskommandos eingesetzt. Anfangs gab es sogar noch einen ’Tag der offenen Tür‘, nicht im Bereich hinter dem Stacheldraht, aber davor. Das Lagergelände war ja Weimarer Nahausflugsgebiet gewesen, und dort stand auch noch ein mächtiger Bismarckturm“, erzählt Volkhard Knigge.
In der DDR pflegte man den offiziellen Antifaschismus. Nach dem Mauerfall 1989 kam es zu neuen Formen des Gedenkens. Direktor Knigge meint, dass die Bürgerbewegung und der demokratische Umbruch zu einem neuen Interesse für die Stadt und ihre Umgebung geführt haben. Viele wollten nun wissen: Was ist denn eigentlich unsere ganze Geschichte jenseits von Mythen oder ideologischen Zerrbildern?
„1989 bekam Weimar nach 1918/19 die zweite Chance, sich endlich als moderne, bürgerschaftlich mitgetragene Stadt zu begreifen und zu gestalten – als Gemeinwesen, das sich seiner Geschichte mit allen Höhen und Tiefen stellt“, sagt Knigge.
Als Weimar 1999 Europäische Kulturhauptstadt werden sollte, sei aus dem Bundesinnenministerium vor der „Buchenwaldisierung“ Weimars gewarnt worden. „Diese Warnung hat sich aber nicht durchgesetzt“, sagt Knigge. „Die Verdrängung der monströsen Geschichte Weimars hätte nicht nur der politischen Kultur der Bundesrepublik geschadet, sie wäre auch international als skandalös wahrgenommen worden.“
Man darf hier auch miteinander lachen
Er weiß, dass es Menschen in Weimar gibt, auch Touristen, die gerne Weimar auf Weimar reduzieren möchten. „Weimar ist hübsch, Weimar hat schöne Parks, man kann nach Weimar kommen und nur mit der Kutsche herumfahren oder nur zum Zwiebelmarkt gehen. Aber es gab genügend, die sich damals bewusst waren, dass gerade die Janusköpfigkeit Weimar zu einer interessanten und lehrreichen Stadt macht.
Hier kann man wie in einer Nussschale nicht nur in Erfahrung bringen, welche menschenfeindlichen Potenziale ein ethnisch-national verengter und funktionalisierter Kultur- und Traditionsbegriff in sich trägt. Hier wird auch die Ambivalenz der Moderne begreiflich.“
Besucht man die Gedenkstätte, fällt auf, wie viele Schulklassen hier sind. Die Besuche gehören zum Programm vieler Schulen, und Volkhard Knigge kennt seine Verantwortung, was die heutige Jugend angeht. „Hierher kommen Menschen wegen Weimar und Buchenwald, wegen der Fragen, die diese Nachbarschaft aufwirft.
Man kann sich ja auch an negativen Begebenheiten orientieren, wie man es anders und besser macht. Es geht nicht darum, jemandem Geschichte aufzulasten, Schuld zu verewigen oder mit dem moralischen Zeigefinger zu wedeln. Es geht darum, der politisch gewollten, rassistisch begründeten Menschenfeindlichkeit nicht das letzte Wort zu lassen. Das Erste, was man jungen Leute sagen muss, ist, dass sie sich hier auch verlieben dürfen.
Hier darf man auch miteinander lachen. Der Ort ist traurig genug. Es geht darum, besser leben zu lernen, dadurch, dass man hier begreift, wie man ein gutes Leben für alle politisch und gesellschaftlich kaputtmachen kann,“ sagt Volkhard Knigge.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“