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NACH OBEN GELECKT

„Ich will Ihnen sagen, auf welche Weise ich vorangekommen bin: Die Firma, bei der ich meine erste Stellung erlangte, schickte mehrere hundert Werbebriefe aus. Damals kannte man noch keine Briefmarken-Aufklebemaschinen, und sogar die heute schon veralteten Schwämme zum Anfeuchten der Marken wurden nur wenig gebraucht. Zum Anfeuchten der Marken wurde damals noch die Zunge benutzt.

Meine Aufgabe war es nun, die Marken auf die Umschläge zu kleben. Ich habe mich dieser Arbeit mit solchem Eifer gewidmet, daß ich in unserem Bureau bald den Rekord für das Briefmarkenlecken aufstellte und alle anderen übertraf. Dabei beobachtete ich mit peinlicher Sorgfalt, daß die Marken fein säuberlich und vollkommen gerade auf den richtigen Fleck zu kleben kamen.

Diese Arbeit wurde natürlich unter der Aufsicht eines Abteilungsleiters verrichtet, der jeden einzelnen Angestellten genau beobachtete und scharfe Kontrolle ausübte. Mehrfach habe ich bemerkt, daß dieser Abteilungschef mich in meiner eifrigen Arbeit schärfstens kontrollierte, aber niemals war mir der Gedanke gekommen, daß der Allgewaltige irgendein besonderes Interesse an meiner Tätigkeit nehmen könnte. Nach längerer Zeit wurde ich unerwartet an das Pult des Vorgesetzten berufen, der mir, dem verschämt Errötenden, eröffnete, daß ich eine bessere Stellung erhalten würde, da ich mich durch Eifer, Fleiß und sorgfältige Pflichterfüllung beim Ablecken von Briefmarken besonders hervorgetan hätte.

Diesen Anfang halte ich für das Geheimnis meines Erfolges.“

Der millionenschwere deutschstämmige Bankier Otto Kahn über seinen Aufstieg in: 'Amerika‘, Nr. 3 (April 1926)

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