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Mythen und Fremdkörper

Für einen pragmatischen Multikulturalismus jenseits von Verteufelung und Verklärung einer kulturellen Vielfalt und für einen unbefangenen Dialog plädiert  ■ Zafer Șenocak

Die deutsch-türkischen Beziehungen basieren auf Mythen. Für Deutschland ist die Türkei nichts anderes als irgendein Land im Nahen Osten, ein Teil der weiten islamischen Welt. Für die türkische Elite war Deutschland Anfang des Jahrhunderts kaum mehr als ein militärisches Vorbild, von dem man Gleichschritt und Disziplin lernen konnte. Wenn es um Kultur, Staat und Gesellschaft ging, orientierte man sich an Frankreich; nach dem Zweiten Weltkrieg an den Vereinigten Staaten von Amerika. Deutschland war kaum Teil des magischen Westens, der die türkische Imagination seit dem Beginn der Modernisierung beschäftigt. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Die in den späten fünfziger Jahren einsetzende Arbeitsmigration hat eine Schieflage in der gegenseitigen Wahrnehmung der beiden Völker geschaffen. Anatolische Bauern ließen sich in deutschen Großstädten nieder und prägten das Türkenbild in Deutschland. Die sogenannte deutsch-türkische Freundschaft, eine Erfindung der Generäle aus dem Ersten Weltkrieg, hatte längst abgedankt, als die ersten Türken in Deutschland eintrafen. Die junge Generation der Deutschen beschäftigte sich mit Vietnam und den Verbrechen der Eltern unter der Naziherrschaft. Man solidarisierte sich zwar mit den chinesischen Bauern, war aber kaum an den Sorgen und Nöten der anatolischen Bauern in deutschen Betrieben beteiligt. Die deutsche Linke hat zu den Ausländern in Deutschland niemals ein Verhältnis jenseits des Paternalismus gefunden.

Die als Gastarbeiteranwerbung bezeichnete Arbeitsmigration stellt Deutschland heute vor eine große Herausforderung. Der deutsche Staat und Teile der deutschen Gesellschaft müssen ihr Selbstverständnis aufgeben, um der neuen Situation Rechnung zu tragen. Der Abschied vom ethnisch homogenen Deutschland, eine Fiktion, die das Nachkriegsdeutschland von den Nazis geerbt hat, fällt schwer. Nicht nur für konservative und nationalgesinnte Deutsche.

In linken, liberalen, aufgeklärten, wie auch immer zu nennenden Kreisen häufen sich Einwände gegen Einstellungen und Verhaltensweisen, die die Türken an den Tag legen. Bald dürfte ein ganz neues Schreckgespenst in Deutschland sein Unwesen treiben: der türkische Lobbyismus. Aus sogenannten Mitbürgern werden dann unbenannte Fremdkörper. Hier wirkt nicht die historisch gewordene deutsch-türkische Freundschaft nach, sondern die deutsch- türkische Unwissenheit und das Desinteresse am anderen. Aber an noch etwas erinnert die Entdeckung dieser neuen „türkischen“ Gefahr im Inneren, nämlich an jüdisch-deutsche Debatten, die Ende des 19. Jahrhunderts hierzulande stattfanden. Diese Debatten wurden vom Antisemitismus aufgeheizt, der sich durch den Zionismus bestätigt sah. Sie haben zu nichts anderem geführt als zur „Endlösung“.

Wer heute angesichts des starken türkischen Nationalismus der türkischen Integration in Deutschland negativ gegenüber steht, begeht zwei grundlegende Fehler.

Erstens: Er überträgt sein zwiespältiges, speziell deutsches Verhältnis zum Nationalgefühl auf die Türken. Diese jedoch besitzen in ihrer überwiegenden Mehrheit ähnlich wie die Amerikaner oder die Franzosen ein ungebrochen positives Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte und nationalen Identität. Der Versuch, sie durch Hinweise auf Verbrechen, die von Türken begangen worden sind, in die Gemeinschaft der Schuld empfindenden Deutschen aufzunehmen, wird scheitern. Völker, die siegreich aus Konflikten hervorgegangen sind, verdrängen die durch sie begangenen Verbrechen. Die Türken bilden da keine Ausnahme. In Deutschland ist jedoch nach wie vor wenig über die Geschichte der Türkei bekannt. Wissen über diese widersprüchliche und komplexe Geschichte bleibt in Fachkreisen verborgen. Zwischen den Eliten beider Länder findet kein nennenswerter Dialog statt, und wenn er stattfindet, dann oft nur mit dem Ergebnis verstärkter gegenseitiger Entfremdung.

Zweitens: Die multikulturelle Gesellschaft wird in Deutschland entweder verteufelt oder verklärt. Ein pragmatischer Multikulturalismus hat sich bislang nicht durchsetzen können. Es ist immer wieder erstaunlich festzustellen, wie wenig in der deutschen „Ausländerdebatte“ mit der Situation in anderen Ländern verglichen wird. Der Blick über die Grenzen verschafft Klarheit über Deutschland als Entwicklungsland in Sachen Einwanderung. Lobbyismus ist fester Bestandteil jeder Einwanderungsgesellschaft. In der deutschen Gesellschaft ist der Assimilationsdruck hoch, die Gegenleistung in Form von Anerkennung des Einwanderers als Bürger jedoch gering. Dieses Mißverhältnis begünstigt die Entstehung von türkischen Inseln in Deutschland.

Machen wir uns nichts vor: Die Integrationspolitik in Deutschland, sofern sie eine war, ist gescheitert. Die Türken in Deutschland werden auch in den nächsten Generationen in ihrer überwiegenden Mehrheit Türken bleiben. Sie werden bestenfalls Türken mit deutschem Paß sein. Darauf müßte man sich schon heute einstellen, auch wenn diese Aussicht einem nicht gefällt. In Los Angeles gibt es Millionen Mexikaner, Chinesen und Japaner mit amerikanischem Paß. Viele von ihnen reagieren empfindlich, wenn es um mexikanische, chinesische oder japanische Interessen geht. Niemand wirft ihnen Lobbyismus vor. Lobbyismus der Minderheiten gehört in den Vereinigten Staaten zur offiziellen Politik.

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