piwik no script img

Mutterbrust und Juniorkost

Nudeln und Pizza gehen bei Kindern immer. Auch Würstchen kommen gut, aber Vollkorn, Fisch, Hülsenfrüchte sind „voll krass unlecker“

von MANFRED KRIENER

Sage bloß keiner, die Ernährung der Kinder beginne mit dem ersten Suckeln an Mamas Brust. Längst haben die Ernährungswissenschaftler die fetale Versorgung im Blick, mit interessanten Perspektiven. Dänische Forscher fanden heraus, dass Neugeborene mit kräftigem Geburtsgewicht als Schulkinder einen höheren Intelligenzquotienten als ihre leichtgewichtigen Brüder und Schwestern hatten. Empfehlung: Schwangere, reinhaun!

Ist das Balg dem Uterus entkommen und an die frische Luft gelangt, gibt es nichts besseres als Muttermilch. Studien zu diesem Thema sind inzwischen zahlreicher als Kinder. Das Europäische Institut für Lebensmittel und Ernährungswissenschaft („Eule“) hat die Literatur gesammelt und die Vorteile des Stillens dokumentiert. Auch die Mutter profitiert: Ihr Brustkrebsrisiko sinkt, die Gebärmutter bildet sich schneller zurück. Dass Brustkinder gegen Krankheiten gefeit sind, ist bekannt. Doch Stillen schützt offenbar auch vor Übergewicht. Unter 9.357 bayerischen Erstklässlern waren diejenigen in Bestform, die ein Jahr lang gestillt worden waren. Schüler, die keine Muttermilch bekommen hatten, waren fünfmal häufiger dick.

Eule-Direktor Udo Pollmer erklärt’s mit dem Sättigungsmechanismus. Das Saugen an der Brust sei erstens anstrengend. Zweitens werde die Muttermilch mit zunehmender Saugdauer immer dickflüssiger. Die Gefahr der „Überdosierung“ sei also geringer als bei Flaschenkindern, die gern einmal über den Durst trinken. Nach der Devise „Viel hilft viel“ rühren wohlmeinende Mütter außerdem öfter mal ein Extralöffelchen Instantpulver in die Mixtur ihrer Flaschenkinder. Damit sind sie in bester Gesellschaft.

Die Kalorienempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung liegen nach Pollmers Einschätzung um 25 Prozent über dem tatsächlichen Bedarf eines Säuglings. Babyspeck ist zwar ganz normal, aber nach aktuellen Untersuchungen sind heute 27 Prozent aller Kinder zwischen fünf und sieben Jahren zu fettleibig, mit steigender Tendenz. Die meisten dicken Kinder behalten ihr Übergewicht auch im Erwachsenenalter.

Immer wieder belegen Untersuchungen, dass gestillte Kinder später im Schultest einen höheren IQ haben. Meist werden die in der Muttermilch enthaltenen ungesättigten Fettsäuren für den Intelligenzbonus verantwortlich gemacht, weil sie für Nerven und Gehirn wichtig sind. Die „Eule“ nennt jetzt einen anderen, bisher schlecht beleumundeten Stoff als mögliche Ursache: Cholesterin. Muttermilch enthält doppelt so viel davon wie Kuhmilch. Und gerade Cholesterin – das zeige der Tierversuch – sei für die Ausbildung des Gehirns besonders nötig.

Nach einem halben Jahr auf Erden kriegt Baby „Beikost“. Seriöse Berater empfehlen einen einfachen Kartoffel-Gemüse-Fleisch-Brei und später mit wachsender Speisekarte einen zusätzlichen Milch-Getreide-Brei und eine Getreide-Obst-Mischung. Christa Chahda vom Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung kritisiert, dass die industriellen Fertigmischungen zu viele Zutaten enthielten. Von 76 untersuchten Breis hätten sich nur drei auf die einfachen Ingredienzen Gemüse, Kartoffel, Fleisch und Öl beschränkt. Auch die Milch-Getreide-Breis enthielten mit Nüssen, Kakao, Schokolade, Gewürzen und Kunstaromen unnötige und wegen der Gefahr von Allergien auch problematische Zutaten.

Mit zunehmendem Alter der Kinder sind die für sie gestylten Fertigprodukte immer öfter gesüßt und mit wissenschaftlich umstrittenen Zusätzen an Vitaminen und Mineralien vollgestopft. Dennoch vertrauen über neunzig Prozent aller Eltern auf die Mischmaschinen der Industrie; Selbermacher sind auf dem Rückzug. Für Markenbindung und Dressur der Kinder ist vor allem der süße Kick der Industrieprodukte notwendig. 75 Prozent aller Kinderlebensmittel sind Süßprodukte.

Die Vorliebe fürs Süße ist angeboren. Blindtests mit verschieden gesüßten Kakaozubereitungen und Apfelsäften zeigen klare Vorlieben: Kinder trinken die süßeste Mischung am liebsten.

Ernährungsberater trösten mit der Einsicht, dass auch weniger süße Drinks noch gut ankommen. Eine Politik des Verbots von süßen Produkten für Kinder lehnen sie ebenso ab, wie sie die industrielle Massenzuckerung kritisieren. Verbote seien unsinnig, weil dadurch die Zuckerle erst recht an Attraktivität gewännen. Außerdem seien die Kinder noch gar nicht in der Lage, präventive Gesundheitsargumente nachzuvollziehen. Die „Eule“ vermutet, dass „Zucker ähnlich wie ein Opiat“ wirkt. Schreiende Babys beruhigen sich jedenfalls sofort, wenn sie einen süßen Schnulli bekommen.

Brei und Schnulli entwachsen, nehmen die Kinder an den Mahlzeiten der Familie teil, sofern es sie noch gibt. Die Auflösung der klassischen Folge von Frühstück, Mittagessen, Abendbrot schreitet munter voran. Stattdessen wird viel gesnackt und zwischendurch geknabbert, und wenn gemeinsam gegessen wird, läuft die Glotze. Tischkultur 2000.

Frühzeitig passt sich das Kind an die Erwachsenen an. Die Analyse der Dortmunder Ernährungsforscher: Kinder essen sehr viel Nudeln und Kartoffeln, zu viel Süßigkeiten, ausreichend Obst, aber zu wenig Gemüse, zu wenig Milchprodukte, fast gar keinen Fisch, keine Hülsenfrüchte, wenig Vollkornprodukte. Sie trinken zu wenig. Sie werden zu früh mit Wurst gestopft und essen zuviel davon. Der Schlankheitswahn schlägt bei den Mädchen durch. Der Anteil entfetteter Produkte in der Ernährung zehn- bis achtzehnjähriger Mädchen war auffällig hoch.

Kinder und Jugendliche aus der Dortmunder Donald-Studie, die seit 1985 Ernährung, Stoffwechsel und Wachstum untersucht, nannten als Lieblingsspeise Nudeln mit Tomatensoße, Pizza und Kartoffelprodukte. Aber auch Hamburger und Pommes frites mit Ketchup sind bekanntlich äußerst beliebt. Da dreht sich manchem gut meinenden Ernährungsberater der Magen um. Dennoch raten die Experten nicht zu Verboten, sondern zu intelligenter Variation. Fastfoodgerichte könnten aufgebessert werden, wenn sie mit einem Salat serviert werden, Pizza sollte mit Gemüse belegt sein.

Besonders schlecht kommen die „Kinderlebensmittel“ weg. Sie unterscheiden sich, so Ernährungsexpertin Chahda, vor allem durch kleinere Packungen, donnernde Preise und häufige Beigabe von Spielzeug vom Normalangebot. Sonstige Vorteile: keine! Dafür seien sie konzeptionslos mit Nährstoffen angereichert.

Natürliche Lebensmittel ohne Kunstaromen und industrielle Bearbeitung werden von Kindern immer seltener gegessen. Ihre Körpermusik – das komplizierte Zusammenspiel von Geschmack und Stoffwechsel – wird frühzeitig von Süßstoffen und angereicherten Lebensmitteln ausgetrickst.

Sündteure Juniorkost, Kindermenüs, Riegel, Jogurts, Bonbons und vor allem die unvermeidlichen Frühstückszerealien sind bis zum Tellerrand mit Vitaminen und Mineralien vollgepackt. Die Kinder sind scharf auf die lustige Verpackung mit Comicfiguren, die Eltern beruhigen ihr Gewissen mit den Turbovitaminen. Nützen tun sie nichts: Füttert man Ratten mit den angereicherten Frühstücksflocken, entwickeln sie sich deutlich schlechter.

MANFRED KRIENER, 46, Ex-taz-Redakteur, arbeitet heute als freier Journalist in Berlin. Als Kind hasste er Kohl und liebte Kaninchen (zu streicheln und zu essen)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen