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Mutter femininer Expression

■ Unter dem Titel „Der Ort des Gedächtnisses“ geben die Deichtorhallen einen Überblick über das Schaffen der Bildhauerin Louise Bourgeois ab 1946

Die Retrospektive im Museum of Modern Art in New York hätte 1982 der Höhepunkt des Künstlerlebens der damals einundsiebzig Jahre alten Louise Bourgeois sein können. Doch für die vorher nahezu unbekannte Außenseiterin war es erst der Beginn ihres Weltruhms und eines hochproduktiven Spätwerks. Die 1911 in Paris geborene große alte Dame gilt inzwischen als Vorreiterin der „neuen Skulptur“ und als Großmutter einer femininen, nicht feministischen Expression.

Die Deichtorhallen zeigen jetzt als einzige deutsche Station eine vom Brooklyn Museum New York zusammengestellte Retrospektive. Mit zusätzlichen Leihgaben wurde die Ausstellung in Hamburg wesentlich erweitert, so mit der letzten Sommer auf der Biennale di Venezia im Rahmen der umstrittenen Jubiläumsausstellung „Identity and alterity – Formen des Körpers 1895-1995“ erstmalig beeindruckenden Installation, die einen in Liebesschwüren gefangenen Torso mit einer fleischrosa Großform verbindet. Von ihren Skulpturen der vierziger Jahre – schmale Stelen, die kunstgeschichtlich noch Vergleiche finden, über janusköpfige Bronzepenisse von 1968 bis zu den „Zellen“ genannten, großen Käfigen voller Körperteile, medizinischer Gläser und Spiegel der Neunziger Jahre – sind insgesamt mehr als fünfzig Arbeiten zu sehen. Da führt eine Treppe ins Nichts. Da hängt ein rotes Herz – nicht in der Kitschform, sondern medizinisch genau – zusammen mit einigen kristallenen Tränen an einer Eisenkonstruktion. Da werden zwei marmorne Kinderhände von einer größeren ebenso schützend wie einschränkend festgehalten: Visionen der Erinnerung. Eine kauernde Sphinx ohne Kopf, zweideutig mit Brüsten, Schwänzen und Hoden an ungewohnten Stellen ausgestattet, ist von jener geschlechtlichen Ambivalenz, die Louise Bourgeois oft thematisiert: Körperlichkeit ist nicht eindeutig.

Diese Arbeiten sind keine Kunst in Reflexion auf Kunst, sondern ein sehr subjektiver, mit Mitteln der Skulptur ausgetragener Überlebenskampf. Dazu Louise Bourgeois: „Man könnte sagen, daß Schmerz die Befreiung vom Formalismus ist“. Dadurch, daß hier traumatische Erlebnisse zu Objekten gemacht werden, findet auch der Betrachter Teile seiner eigenen Angstträume wieder. Ganz allein dem Raum mit der Familie metergroßer Riesenspinnen begegnend, muß der Autor gestehen, daß sich sein Rücken verspannte und ihn massives Unwohlsein beschlich.

“Da die Ängste der Vergangenheit mit den Funktionen des Körpers verbunden waren, erscheinen sie auch wieder durch den Körper. Für mich ist die Skulptur der Körper. Mein Körper ist meine Skulptur“, sagt Louise Bourgeois. Den geradezu therapeutischen Hintergrund dieser Kunst betont ein anderes Statement: „Art is the Guarantee of Sanity“ steht auf einem Bettlaken gestickt.

Hajo Schiff

18. Januar bis 17. März, Deichtorhallen

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