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Archiv-Artikel

Munich Psycho

Das Böse und die Tänzerin: Bernhard Keller inszeniert in seinem erstaunlich gelungenen Debütroman ein „Spiel im Dunkeln“

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Es sollten die heiteren Spiele werden, das war beschlossen. Und man baute sich das entsprechende Gelände dazu. Das Olympische Dorf in München ist der auf dem Reißbrett entstandene architektonische Ausdruck des Wunsches, nach den schaurig-monumentalen Inszenierungen von 1936 das andere, das neue Deutschland zu präsentieren, fröhlich, weltoffen, friedlich, geläutert. Die Zäsur in der eigenen Geschichte – im Münchener Olympiapark ist sie zum Denkmal geworden, ein in Beton gegossener guter Wille, mit einem Kunststoffdach überzogen; ein symbolträchtiger Ort der alten Bundesrepublik, ganz unabhängig vom nicht ganz so heiteren Verlauf der Spiele; den konnte schließlich niemand vorausahnen.

Durch dieses Gelände streift ein Mann, Lennart. Anfang September 1972 war er zum ersten Mal dort; damals war er acht Jahre alt. Es hat sich nicht viel verändert. Im Stadion läuft ein Fußballspiel, man hört die Zuschauer als Hintergrundgeräusch, es ist November, ein warmer Tag, Föhnwind. In der Diskothek unter der Olympiahalle bereitet sich die Nackttänzerin Nora auf ihren Auftritt vor. Lennart hat einen Plan: Er wird in Noras Leben eingreifen, sie entführen und in einen schalldichten Raum sperren. Er wird „Gewalt ausüben und dabei unschuldig bleiben – diese Vorstellung berauscht ihn.“ Gleichzeitig wird Lennart Noras Mutter kennen lernen, Rosa, mit ihr im Hinterzimmer ihrer Apotheke sitzen und ein Spiel um Lust und Macht zelebrieren – ein „Spiel im Dunkeln“.

Es ist ein narzisstisches Dreieck, das Bernhard Keller in seinem Debütroman aufbaut: Nora, die sich so wunderschön findet, dass sie sich gar nicht oft genug selbst betrachten kann; ihre Mutter, deren Sorge um die Tochter sich in Grenzen zu halten scheint und die sich stattdessen lieber Lennarts Faszination ergibt; und Lennart selbst, ein Munich Psycho als unauffälliger Büroangestellter, ein offensichtlich gebildeter und intelligenter Dreckskerl, getarnt durch die äußere Routine seines biederen Tagesablaufs.

Das Faszinierende an diesem Buch ist der harte Widerspruch zwischen der sprachlichen Präzision des Autors, der exakten Vermessung von Körperlichkeit, Lennarts Präzision in der Ausführung seiner Pläne und der offensichtlichen Irrationalität dessen, was hier geschieht. Das Böse ist, anders als in vergleichbaren Fällen, keineswegs banal, sondern, viel beunruhigender, vollkommen normal und mithin überall. Der Abgrund in Lennart ist keine Überraschung, schon gar nicht für ihn selbst, sondern Teil eines in sich schlüssigen Charakters, der ruhig und vernünftig handelt, der fühlt, denkt und vor allem begehrt. Die Perspektive, die Keller konsequent durchhält, ist der kühle sexualisierte Blick, dem weder sorgfältig epilierte Frauenbeine entgehen noch der Umstand, dass „die gegenwärtige Autogeneration große Ärsche hat, grade so, als wollten diese Fahrzeuge alle von hinten genommen werden“.

Es ist ein ständiger Auf- und Abbau von Erregung jeder Art, was diesen so erstaunlich gelungenen Roman in der Balance hält. Und es sind immer wieder überraschende gedankliche Wendungen, die das „Spiel im Dunkeln“ so spannend halten: Man denkt immer wieder, in Lennart auch das Gute denken zu dürfen, und wird immer wieder angenehm enttäuscht. Nein, gut ist hier nichts, von Moral glücklicherweise keine Spur, da hilft auch das mit so viel Menschlichkeit entworfene Olympiadorf nichts, wenn der Mensch, der sich in ihm bewegt, amoralisch ist. Lennart ist der personifizierte Antipode dieses Ambientes. Glück definiert sich in einer solchen mentalen Disposition anders: „Vielleicht wird Rosa in seiner Gegenwart verrückt. Wem widerfährt schon die Gnade, dabei sein zu dürfen, wenn jemand verrückt wird? Das macht ihn glücklich, wie sein Wissen um den Verbleib ihrer Tochter. Er freut sich, und diese Freude kommt ihm so verblüffend echt vor.“

Bernhard Keller hat auf äußerst kunstvolle, weil kaum merkliche Weise die Konstanten aufgelöst und die Paradigmen umgewandelt, Liebe in bloße Körperlichkeit, Kommunikation als Akt der Verständigung in ein reines Machtspiel. Was aber treibt diese Figur an? Lennart ist kein skandalös-grausamer Patrick Bateman, sondern einer, der die Grausamkeit als völlig unskandalöse Tatsache in sein Leben einbezogen hat. Was will er? Das überraschende Ende (eine Utopie? Eine bloße Imagination?) gibt einen Hinweis: „Liebe“, sagt Lennart, „Liebe, natürlich. Vom ersten Augenblick an und so weiter. Nichts Besonderes, eine durch und durch gewöhnliche Liebe.“ Vielleicht erzählt dieses erschreckende, düstere, erhellende, ungewöhnliche Buch letztendlich von der Sehnsucht nach erfüllter Liebe. Und von der Unmöglichkeit einer Erfüllung. Das ist nicht heiter, aber in diesem Fall wahr.

Bernhard Keller: „Spiel im Dunkeln“. Collection S. Fischer, Frankfurt am Main 2005, 286 Seiten, 15 Euro