: Moskau will jetzt „Plan-Marktwirtschaft“
■ Dauer des Übergangs strittig / Arbeitslose sind „Reservearmee der Perestroika“ / Wirtschaftssonderzonen geplant
Berlin (taz) - Seitdem der Übergang zur Marktwirtschaft beschlossene Sache ist, hat die Wirtschaftsdiskussion einen großen Sprung getan. Nicht mehr von Umbau ist die Rede, sondern davon, wie schnell man möglichst viele ausländische Investoren dazu bewegen kann, in die marode Sowjetökonomie Kapital zu stecken. Am Mittwoch wurden die radikalen Pläne von Leonid Abalkin (s. taz vom 3.4.) offizielle Politik. Finanzminister Pavlov kündigte über Radio Moskau an, daß ein freier Devisenmarkt für Investoren angestrebt wird. Am selben Tag übernahm auch Ministerpräsident Ryschkow die Vorstellungen Abalkins und nannte auf einer geschlossenen Sitzung des Ministerrates Einzelheiten.
So soll die Wirtschaft schon in den Jahren 1990 und 1991 „auf breiter Front“ zur Marktwirtschaft übergehen. Unrentable Betriebe sollen in die Arbeiterselbstverwaltung entlassen werden (rentable Betriebe, so die Folgerung, würden an Ausländer verkauft). Außerdem beschloß der Oberste Sowjet die Aufhebung des Außenhandelsmonopols der Union. Außenhandel, Haushaltsbildung und Planung fällt künftig in die Zuständigkeit der Republiken, welche sogar Moskauer Beschlüsse aussetzen können.
Konsequenterweise wurde am Donnerstag ein Gesetz, welches den Status sozialistischer Betriebe regeln sollte, abgelehnt: es paßt nicht mehr in die neue Landschaft. Das für die Gesetzgebung zuständige Komitee erklärte stattdessen, man müsse bei neuen Gesetzen auf die „organische Einpassung in den Prozeß der Bildung einer Planmarktwirtschaft“ achten. Für den Herbst soll ein Bürgerliches Gesetzbuch erarbeitet werden. Vielleicht wird der Übergang zum Kapitalismus auch schon früher Realität, als Abalkin das wollte: der Vorsitzende des Parlamentskomitees für die Wirtschaftsreform, Wologshin, will ihn jedenfalls schon 1991 abschließen.
Die Zeit der Experimente hat also begonnen. Darauf deutet auch ein Plan hin, der in den 'Moskowskije Nowosti‘ vorgestellt wurde und der die Einrichtung einer Wirtschaftssonderzone im Gebiet Kaliningrad vorsieht. Dort sollen deutsche Unternehmer „mit uns zusammen eine entwickelte Wirtschaft führen“, schrieb das Blatt. Exporterlöse und Kreditaufnahme reichten nicht mehr aus, weil „wir jeden Kredit sehr erfolgreich zugrunde richten können“.
Am Freitag beschäftigte sich die 'Pravda‘ mit der einzigen gesicherten Folge der Wirtschaftsreform: der Arbeitslosigkeit. Diese sei unvermeidlich und schon eine soziale Realität, wurde berichtet. Die Arbeitslosen seien eine „Reservearmee der Perestroika“.
D.J.
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