: Moskau reagiert vorsichtig
MoskauerInnen erfahren durch Mund-zu-Mund-Propaganda von Ereignissen in Berlin und der DDR ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Moskaus offizielle Medien brachten gestern die Nchricht über die Ereignisse in Berlin und der DDR als erste Meldung, das TV zeigte Bilder über die Nacht in Berlin. Die lange Informationsblockade der sowjetischen Medien über die Ereignisse in der DDR wich vor einer Woche einer offeneren Berichterstattung. Über die zeitweise Öffnung der Mauer und die Szenen, die sich in der Nacht vom Donnerstag zu Freitag in Ost-Berlin abspielten, hatte zunächst nur der englischsprachige Dienst von Radio Moskau am Freitag eine kurze Meldung gebracht, und die Nachrichtenagentur TASS brachte kommentarlos die Nachricht. Am Donnerstagabend hatten die TV-Nachrichten den Rücktritt des Ost-Berliner Politbüros als ersten Auslandsbeitrag gebracht. Ausführlich ging der Berichterstatter auf die Person Hans Modrows ein, der sei ein prinzipieller Befürworter von Erneuerungen und Reformen und genieße Unterstützung in breiten Kreisen der Bevölkerung. Die Möglichkeit eines Mehrparteiensystems in der DDR wurde am Freitag in der Regierungszeitung 'Isvestija‘ angesprochen. Auch die 'Komsomolskaja Pravda‘ unterstrich den dramatischen Charakter der Ereignisse in Ost -Berlin und berichtete zudem über die Fluchtproblematik und die daraus entstandenen Schwierigkeiten für die BRD.
Regierungssprecher Gerassimov hatte bereits am Donnerstag auf einer Pressekonferenz zu verstehen gegeben, daß die Sowjetunion bereit sei, auch eine nicht rein kommunistisch regierte DDR zu akzeptieren, solange das Land nur dem Warschauer Pakt treu bleibe. Auf entsprechende Fragen antwortete er, daß schließlich auch Polen trotz seiner Koalitionsregierung das Bündnis nicht verlassen habe. Der Wandel in Ostmitteleuropa werde Gegenstand der Gespräche zwischen Gorbatschow und Präsident Bush nächsten Monat in Malta sein. Gerassimov scherzte: „Von Jalta nach Malta“, fügte aber korrigierend hinzu: „Wir bewegen uns von der Aufteilung Europas in der Nachkriegsära auf ein gesamteuropäisches Haus zu.“
Moskauer Bürger reagierten am Freitag auf die Mund-zu-Mund -Mitteilung, daß die Mauer offen sei, mit Begeisterung und gratulierten den westdeutschen Korrespondenten: „Das ist großartig“, meinte ein Passant: „Jetzt werden auch nicht mehr so viele Menschen aus der DDR fliehen. So etwas beruht oft auf mangelnden Vergleichsmöglichkeiten. Ich denke noch an die vielen Einwohner Bulgariens, die erst unbedingt in die Türkei wollten und dann mit Vergnügen wieder in ihr altes Land zurückkehrten.“ Ohnehin herrscht in der Sowjetunion bei Vertretern aller Nationalitäten die Ansicht vor, daß so etwas wie die deutsche Teilung auf Dauer keinem Volke zuzumuten sei. Dabei ist der bewundernde Glaube an die deutsche Gründlichkeit ungebrochen. „Warum haben sie in der DDR denn gleich das ganze Politbüro in Pension geschickt und nicht nur ein paar Mitglieder, wie bei uns?“ fragte ein Hörer am Donnerstagabend in einer Moskauer Rundfunkmagazinsendung. Die Antwort des Moderators lautete sinngemäß: Bei uns sind schon immer alle Prozesse holperig und im Zick-Zackkurs verlaufen. Die Deutschen dagegen überlegen zwar erst lange: aber dann packen sie eine Sache richtig an. So könnte die DDR uns auch mit der Perestroika bald überholt haben. I N T E R V I E W
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