: Morgen ist anderswo
■ Graphikkalender von Beck, Westermann und Götze in der »Galerie im Scheunenviertel«
Im August, die meisten dachten an vergnügliches Reisen, ereignete sich folgende betrübliche Geschichte, festgehalten von Moritz Götze zur moralischen Erbauung der Daheimgebliebenen auf einem Kalenderblatt: »Der SeeMann ist Um von Einer Flasche Rum«. Der Seemann liegt flach am unteren Bildrand, über ihm thront rauchend eine Frau, die jetzt sein Kapitän geworden ist, seelenruhig dem sich entfernenden Dampfer nachschauend. Wohl dem, der die Heimat nie verlassen hat, ihn kann solch grausliches Schicksal nicht ereilen. Zu einer in den Wellen treibenden Kiste erläutert ein Spruchband zwischen Anker und durchstochenem Herzen im Rahmen: »Die Kiste mit Schiffszwieback ist die letzte Nachricht von dem Dampfer aus Hong Kong für den armen Seemann«.
Geschichten von abenteuerlichen Fluchten, von der Entdeckung eines lockenden Dschungels hinter dem nächsten Theatervorhang, von Reisen zu den fadendünnen Zwergen, die auf einem Gebirgstisch wohnen, von Gangstern und Vampiren, die letzte Prinzessinnen zu Schweinen verwandeln, von alten Vaganten und neugierigen Hunden erzählen Moritz Götze, Detlef Beck und Gerd Westermann in ihren Graphikkalendern, die sie seit 4 Jahren zusammen herausbringen. Was von den letzten Jahren an Radierungen und Siebdrucken übrigblieb und die Kalenderblätter für 1991 stellen sie in der »Galerie im Scheunenviertel« vor.
Im Zickzackkurs, wie die fahrigen Linien, die »Achtung, hoher Seegang!« signalisieren, ist jeder der drei Graphiker aus Leipzig und Halle auf die Kunst zugesteuert. Beck und Westermann nahmen den Umweg über ein Architekturstudium, Götze besuchte eine Tischlerlehre und arbeitete als Dachdecker, bevor er eine Siebdruckwerkstatt aufbaute. Doch damit haben sie ihrem Strich eine vagabundierende Freiheit bewahrt; ihre Kalenderblätter sind wie Gutenachtgeschichten für die kleine Schwester oder eine heiße Kolportage, für einen müden Freund zum Trost erfunden.
Vor einer Leiter, die zum geöffneten Fenster hinaufreicht, steht ein Hund mit geblümten Fell; »Love« und »Peace« ist in die verschrammte Wand hinter ihn gekratzt: dieser Siebdruck für den Monat März ist die Einladung zum Ausspinnen eines Hundeabenteuers.
Heiße Großstadtepisoden spielt Beck in roter Nacht aus: Ein fideler alter Zausel, zwischen weggeworfenen Dosen auf dem Pflaster hockend, drückt seine Quetschkommode, bis sie aus dem letzten Loch pfeift, damit die Frau im schulterfreien Minikleid, die wenige Meter vor ihm stehengeblieben ist, sich noch einmal zu ihm umdreht. Ein Bild genügt, und das Kurzfilmszenario ist perfekt.
Für das Jahr 1991 wechselt Beck den Schauplatz vom comicreifen Überall und Nirgendwo zu den prosaischen Orten Rudow, Brunnen- oder Schlüterstraße: Von oben schaut er auf den Verkehr, läßt Straßenbahnen und Autos wie gutmütige Tiere vorüberzockeln, bepflanzt die Trottoirs mit Bäumen, belebt sie mit Caféhaustischchen, freundlichen Kellnern, kurzberockten Mädchen und kleinen Hunden. Sein West-Berlin sieht aus wie das Paris der Zeichner der fünfziger Jahre, eine ewig vom Valse Musette und Verliebten durchzogene Stadt, in der einem an jeder Straßenecke ein schnauzbärtiger Franzose mit einer Flasche Picon auflauert. Gute Aussichten für das nächste Jahr. Katrin Bettina Müller
Zwölfender. Eine Ausstellung mit Graphikkalendern von Beck, Westermann und Götze in der »Galerie im Scheunenviertel«, Weinmeisterstraße 8, 1020 Berlin, bis 21.12., Montag bis Freitag 14-18 Uhr.
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