Montagsinterview mit Trevor Wilson: "Fußballer und Gesang gehören absolut nicht zusammen"

Trevor Wilson kam vor 30 Jahren aus England nach Berlin. Er mag Musik, Fußball und Bier. Und hat einen Tick: Wilson sammelt deutschsprachiges Fußballliedgut. Ein Gespräch über Herthas Musikgeschmack, die Lieder des Kaisers und Fangesänge bei der Europameisterschaft.

Trevor Wilson Bild: Piero Chiussi

taz: Herr Wilson, die Fußball-Europameisterschaft steht vor der Tür. Es ist also sowohl Hochsaison des Fußballs wie auch der Fußballmusik.

Trevor Wilson: Stimmt. Gerade vor der EM kommen ganz viele seltsame Lieder raus.

Ist das für Sie als Sammler eher ein Grund zur Freude oder zum Jammern?

Trevor Wilson wird 1959 in Bromley nördlich von London geboren. Seine Jugend verbringt er in der englischen Metropole. Wilson reist viel durch Europa, 1983 verschlägt es ihn nach Westberlin. Hier vertickert er per Mailorder-Versand selbst zusammengestellte Mitschnitte von Konzerten. Zusammen mit seiner damaligen Frau gibt er von 1986 bis 88 das Fanzine Ich und mein Staubsauger heraus. Nach der Wende ist Wilsen als Radiomoderator bei Fritz (u. a. "Nightflight") tätig. Heute arbeitet der Vater dreier Kinder als selbstständiger Internetprogrammierer und freier Journalist. Bei der EM hofft Trevor Wilson auf den zweiten großen Titel für England nach 1966.

Die Internetseite www.fc45.de gibt einen Überblick über mittlerweile rund 3.600 Tonträger mit Fußballbezug aus Deutschland, Österreich und Schweiz. Aufgelistet werden Schellackplatten, Vinylplatten, CDs, Kassetten und MP3s, die das ganze Spektrum der Fußballtonkunst abdecken: Vereinshymnen, Lieder über Fußball und Fußballer, singende Fußballer und singende Nationalmannschaft, Hörspiele und Hörbücher. Der Name fc45 bezieht sich auf die Abspielgeschwindigkeit einer Vinylsingle.

Beides. Ich würde nichts lieber machen, als mein ganzes Leben nur mit Fußball und Musik verbringen.

Kommen denn immer mehr Fußballlieder heraus?

Seit es MP3 gibt, kann jeder ein Lied aufnehmen – und am nächsten Tag ist es online für alle hörbar. Diese Technik war eine Art Dammbruch. Früher musste man ins Studio gehen und eine Aufnahme machen, was recht teuer war. Seit einigen Jahren wird praktisch auch alles veröffentlicht, was aufgenommen wird.

Hebt das den Schrottanteil?

Es gibt jetzt insgesamt mehr Musik, also auch mehr Schrott. Die Relation ist aber ziemlich gleich geblieben.

Wie viele Fußballplatten besitzen Sie?

Vielleicht 2.500, dazu tausende MP3-Dateien. In unserem Archiv haben wir rund 3.500 Fußballtonträger.

Ihr Archiv ist die Internetplattform fc45.de für deutschsprachiges Fußballliedgut, die Sie 2005 zusammen mit Michael Schäumer gegründet haben. War das eine Schnapsidee – im wahrsten Sinne des Wortes?

Nein. Michael Schäumer und ich haben den gleichen musikalischen und fußballerischen Background. Er wuchs in Wanne-Eickel auf und musste sich zu seinem Herzverein noch einen Lieblingsverein suchen: den VfL Bochum. Wir gehen seit Jahren zusammen zum Fußball ins Olympiastadion. Weil Schäumer auch Fußballplatten sammelt, hatte ich ihn mal nach einer kompletten Liste von dem Genre gefragt. Die kannte er nicht. Also haben wir sie selbst aufgebaut.

Nicht schlecht!

Ich wollte einfach was Schönes in der Hand haben oder auf dem Bildschirm. Ich bin von Natur aus ein Komplettist. Wenn ich etwas sammele, muss ich alles haben. Entweder richtig oder gar nicht. Mit den Fußballplatten ist das dann eskaliert, es ist fast eine Obsession. Ich suche überall im Netz und sonst wo, ich bin ein professioneller Forscher.

Wie viel Geld hat Sie Ihre Sammelwut gekostet?

Ein nagelneuer Mittelklassewagen deutscher Herkunft wäre drin gewesen.

Waren Fußball- und Musikfantum schon früh bei Ihnen verknüpft?

Das ging los mit dem WM-Lied „World Cup Willi“ von Lonnie Donegan. Da war ich sieben, und England hatte gerade die WM 1966 gewonnen. Das Lied blieb in meinem Kopf. Platten sammle ich, seit ich zehn bin. Aber das mit den Fußballplatten fing erst an, als ich in den Achtzigern nach Berlin kam.

Was war der Auslöser?

Ich hatte mir den Sampler „Viva Fußball“ für eine Mark gekauft. Darauf waren Titel wie „44 Beine“ von Torwart Norbert Nigbur oder „Lass doch mal Dampf ab“ von Gerd Fröbe. Ich dachte: „Oh, das ist gut“ – und wurde richtig süchtig nach dem Zeug. Auf Flohmärkten habe ich dann bewusst nach deutschen Fußballsingles gesucht.

Warum sind Sie denn nach Berlin gekommen?

Alle meine Kumpels aus der FC-Köln-Gegend flohen vor der Bundeswehr nach Westberlin, und die habe ich da besucht. Eigentlich ging es nur ums Partymachen. Eine Weile bin ich noch hin und her zwischen Berlin und London, bis ich im Frühjahr 1984 einen „Ich bin schwanger“-Anruf aus Berlin bekam. Da musste ich mich entscheiden. Das Ergebnis war: Frau, Kind, ich und Berlin.

Sie sind dann in die Kreativszene eingestiegen?

Ich habe selbst zusammengestellte Tapes verkauft, zum Beispiel von John-Peel-Sessions. Ich habe auch Liveaufnahmen in diversen Kleinklubs gemacht, in England und hier, im „Loft“ oder im „Metropol“.

Ging das heimliche Mitschneiden problemlos?

Es gab damals eine Berliner Firma, die hochwertige Kopfhörermikrofone herstellte. Weil die wie Kopfhörer aussahen, fielen die am Einlass nicht auf. Ärger gab es dann aber mit einem Aufnahme von einem englischen BBC-Konzert von Nena 1984. Die Tapes hatten wir ja nicht nur per Mailorder in ganz Deutschland verkauft, sondern auch auf dem Flohmarkt auf der Straße des 17. Juni. Als ich dort den Nena-Keyboarder Uwe Fahrenkrog mal fragte, ob er mir auf mein Bootleg ein Autogramm gibt, hat er das gepetzt – und es gab einen Prozess.

Am Ärgermachen schienen Sie Spaß zu haben. Ihr Fanzine Ich und mein Staubsauger war so was wie das Zentralorgan des Stänkerns.

Das Fanzine hatte ich 1986 mit meiner damaligen Frau gegründet. Viele Leute halfen uns, Tom Scheutzlich, der jetzt Mitglied in der Band Mutter ist, Sabine Toepfer, die heute was Hohes bei der CDU ist [Staatssekretärin in der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz, d. Red.], und Max Goldt alias Onkel Max. Wir haben über Kultur, Sport, Politik geschrieben und sogar die Leserbriefe selbst. Nur eben nicht so nett wie in den Stadtmagazinen Zitty und Tip, sondern sehr kritisch. Uns interessierte nicht, ob eine Plattenfirma uns Platten schickt oder ob wir Freikarten für Konzerte kriegen. Wir haben das Fanzine bei uns zu Hause gedruckt und mit Fahrrädern verteilt. Wir hatten auch viele Abonnenten in Westdeutschland und haben die Hefte sogar in der DDR verschenkt.

Wie brachten Sie die denn rüber?

Wir schmuggelten die Magazine – in einem war sogar mal ein Honecker-Bastelhampelmann – über befreundete US-Soldaten im Kofferraum nach Ostberlin.

Warst Sie auch mal zu Fußballspielen in Ostberlin?

Ich war mal im Jahnstadion, aber das konntest du vergessen. Es gab zwar gute Spieler im Osten. Aber das Spielniveau war doch meistens bescheiden.

Wo haben Sie in Berlin nach guten Fußballspielen gesucht?

Meistens im Olympiastadion, deshalb war ich bei Blau-Weiß und jetzt eben Hertha. Für die habe ich eine Dauerkarte. Zu TeBe bin ich aber auch oft gegangen. Wenn Union in der ersten Liga spielen würde, würde ich da auch hingehen.

Ihr fc45-Archiv zeigt eine bemerkenswerte Vielfalt der Fußballmusik: Vereinslieder, WM-Songs, Fußballer als Sänger und Besungene. Was lässt sich aus diesem breiten Spektrum ableiten, außer dass aus Quantität kaum Qualität erwächst?

Vor allem, dass Fußball soziopolitisch keine Grenzen kennt. Beim Fußball kommen alle möglichen Leute aus allen sozialen Schichten zusammen, mit sämtlichen politischen Ansichten von links bis rechts. Fußball hat keine Grenzen, das ist fantastisch. Das zeigt sich auch in der Fußballmusik: Von Polkabands aus den österreichischen Bergen bis hin zu Nazirock, von Rap bis Rock ’n’ Roll, von Schlager bis Heavy Metal – es gibt kein musikalisches Genre, das sich nicht mit Fußball beschäftigt hat.

Sie sammeln auch rechtsradikale Fußballmusik?

Es gibt viel derbe Nazimusik von sehr dubiosen Bands. Solche indizierte Musik haben wir nicht auf unserer fc45-Seite. Aber Hooligansongs und rechte Lieder sind natürlich Bestandteil der Fußballmusik. Man kann die braune Kacke nicht ignorieren, wenn man ein ernsthaftes Archiv anlegt. Diese Seite der Fußballkultur wird vom DFB vielleicht nicht gern gesehen, aber sie ist ja da.

Gern gesehen wird hingegen Franz Beckenbauer, der die Deutschen ja schon früh auch mit Schlagern beglückte. Alles was „der Kaiser“ anfasst, wird ja angeblich zu Gold.

Ich finde Beckenbauer Singles „Du allein“ oder „1:0 für die Liebe“ großartig. Es ist immer wieder wunderbar zu hören, wenn Fußballer singen. Wie falsch die das machen!

Gab es früher einen größeren Mut zur Peinlichkeit?

Die Lieder von Gerd Müller sind wirklich so peinlich, dass es wieder gut ist. „Dann macht es Bumm“ ist noch der beste Titel. Fußballer und Gesang sind zwei Dinge, die absolut nicht zusammengehören.

Beziehen Sie das auf alle Fußballer oder nur auf deutsche?

Nein, das ist generell so. Es hat ja auch kaum ein Fußballer eine Sängerkarriere geschafft. Julio Iglesias war in der Jugend mal Torwart bei Real Madrid, bis er wegen eines Autounfalls aufhören musste und schließlich Sänger wurde.

Bevor Fußballer selbst sangen, wurden sie ja zunächst besungen.

Stimmt. Das begann so in den 1920er-Jahren. Hermann Leopoldis Foxtrott „Heute spielt der Uridil“ hieß 1922 eine Hymne auf den Wunderstürmer von Rapid Wien. Das war damals ein Riesenhit. Ich mag diese alten schrägen Sachen, aber auch moderneres Zeug wie Frank Schöbels „Ja, der Fußball ist rund wie die Welt“, der DDR-Beitrag zur WM 1974. Das gehört für mich zu den besten deutschen Fußballliedern. In der Musikzeitschrift Spex hatten wir vor Jahren mal die Charts den besten Fußballplatten erstellt, da kam das Lied nach ganz oben.

Zwischen 1974 und 1994 hat die deutschen Fußballnationalmannschaft vor Weltmeisterschaften stets Lieder eingespielt …

Das letzte Mal haben sie 1994 zusammen mit Village People was gesungen – und sind im Turnier dann früh rausgeflogen. Die Nummer war besonders lächerlich. Andererseits finde ich es schade, dass es keine Blamage der Nationalmannschaft alle vier Jahre auf musikalischer Ebene mehr gibt. Das war immer ein Höhepunkt vor jeder WM. „Fußball ist unser Leben“ von 1974 finde ich allerdings großartig.

Haben Sie einen Überblick, ob das Fußballliedgut in anderen Ländern auch so umfangreich ist wie hierzulande?

In England werden meistens Vereine besungen. Da gibt es relativ wenige Lieder über den Fußball an sich. Vielleicht haben die Briten die Vorstellung, dass es zu blöde ist, über den Sport zu singen. Die Deutschen und die Österreicher haben da keine Hemmungen. Ansonsten wird natürlich überall über Fußball gesungen: in Italien, Niederlande, Frankreich, Belgien, Polen. Aber wir konzentrieren uns auf die deutschsprachigen Sachen. Am liebsten würden wir eine Art Fußball-Mediathek werden und die Songs alle öffentlich zugänglich machen, was wegen des Urheberschutzes aber aufwendig und teuer ist. Wir wollen uns jetzt in einen Verein umwandeln, um vielleicht mehr voranzukommen.

Wäre der nächste Schritt, auch Fangesänge in die Sammlung einzubeziehen?

Es sind wenige Fangesänge auf Tonträgern veröffentlicht worden. Insofern ist das nicht geplant.

Singen Sie eigentlich im Stadion mit?

Nein, nein, nein, das ist ekelhaft. Bisschen grölen, okay. Aber ich habe eine sehr große Abneigung gegen Ultras und Megafone. Die sollte man in allen Stadien verbieten. Und diese organisierte Mitsingscheiße sieht doch aus wie russisches Eiskunstlaufen in den Siebzigerjahren, als die Zuschauer alle so rhythmisch geklatscht haben, oder wie auf Spartakiaden mit lauter bunten Bildern. Dieses organisierte Fanverhalten kriecht sich wieder in die Bundesliga ein. Das ist widerlich.

Man redet inzwischen von Fußballkultur. Sie tun das offenbar nicht.

Das ist für mich keine Kultur, das ist eine Schandtat.

Viele Fußballlieder in Ihrem Archiv beziehen sich auf einen Verein, sie sind oft sogar Teil der Tradition eines Klubs. Wissen das die Vereine eigentlich zu schätzen?

Ich glaube, das interessiert die nicht. Die oberen Vereinsleute sind wohl eher der Meinung, dass jetzt mal eine CD erscheinen sollte. Und dann beginnt die Vetternwirtschaft. Man kennt jemanden, und der macht die neue Platte.

Bei Hertha BSC wurde vor einiger Zeit diskutiert, die etwas angestaubte Frank Zander-Hymne „Nur nach Hause“ durch eine moderne Nummer von der Band Seeed zu ersetzen, zumal Pierre Baigorry – sprich Sänger Peter Fox – sogar Fan von Hertha ist.

Seeed sollen auf jeden Fall eine Hertha-Hymne machen. Jeder soll dürfen, es gibt keine Begrenzung. Es ist letztlich eine Frage der Qualität. Aber leider haben sie innerhalb der Vereine meistens kein ordentliches Fachwissen über Musik und keinen Bezug zur Kultur außerhalb von Fußball. Am Ende kriegen sie dann halt oft die falschen Songs. Warum Hertha nie was mit Seeed gemacht, ist mir ein völliges Rätsel, weil jeder sagen würde: „Hey Leute, damit gewinnt ihr echt neue Hertha-Fans!“ Wenn eine qualitative Topband ein Fußballlied macht, ist das nur von Vorteil.

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