piwik no script img

Momentaufnahmen vom elenden Pflaster

■ Annette Nolte und ihr Debütroman „Die Spinnerin“: Eine Frau mit Gespür für Alltag, Kunst und Bucherfolge

St. Georg, Bremer Reihe. Wer vom Hauptbahnhof kommt und zum Arbeitsamt oder ins Kino will, kann durch kleine Straßen wie diese eine Abkürzung nehmen, dem Lärm und Gestank am Steindamm entgehen. Aber viele ziehen Gestank, Lärm und Umweg dem Gang auf diesem elenden Pflaster vor. Strich, Drogen, Dreck, Gewalt, verzweifelte und gleichgültige Gesichter.

Seit acht Jahren wohnt Annette Nolte hier. „Für die meisten“, so erzählt sie, „ist die Verträglichkeitsgrenze aber spätestens nach fünf Jahren überschritten.“ Irgendwann vor ein paar Jahren fiel ihr eine junge Frau auf, ungefähr in ihrem Alter, die jeden Tag an der Straßenecke auf Freier wartete. Nie haben die beiden miteinander gesprochen, aber in Annette Noltes Gedanken nahm diese Frau immer mehr Raum ein. So entstand eine Geschichte, deren Hauptfigur die drogensüchtige Prostituierte sein sollte. „Ich würde sie Anne taufen“, schrieb Nolte, dann folgten die ersten zwanzig Seiten ihres Debütromans Die Spinnerin.

Ein bißchen schüchtern wirkt Annette Nolte zu Beginn unseres Gespräches in dem stilvoll gestalteten Wohnzimmer. Doch schnell überzeugt die schmale, zierliche Person, der auch die 30 Lebensjahre kaum anzumerken sind, von ihrer Selbstsicherheit und Eigenwilligkeit. Nach und nach stapeln sich Ausstellungskataloge vor uns, mit denen die Kunsthistorikerin ihre Vorlieben und ihre Arbeit illustriert. Für Kunsthäuser in Zürich und Hamburg war sie unter anderem tätig, zuletzt als Kuratorin der Ausstellung Cherchez la Femme. Als Schreiberin beteiligte sie sich vor allem an Kunstzeitschriften, ihr zweites Studienfach, die Ethnologie, qualifizierte sie für die Mitarbeit an dem Periodikum Actio Humana. Erfahrungen, die Nolte auf den Weg zu dem Roman führten, zur kunstfertigen Verflechtung von Reportage und Traum.

Nachdem die ersten Manuskriptseiten zwei Jahre in der Schublade gelegen hatten, wurde die Autorin schwanger und nahm sich im Sommer 1994 Zeit, das Projekt abzuschließen. „Wie ein fetter Buddha saß ich auf meinem Bett, Einfälle und Schreiben verselbständigten sich. Das war eine total feine Angelegenheit – von all dem, was ich bisher gemacht habe, das Befriedigendste.“ Diese Begeisterung und die „Zuneigung zu Anne“ – als reale und fiktive Person – waren es auch, die Nolte Sicherheit gaben: „Ich spürte, daß ich mit der Geschichte Erfolg haben würde, davon bin ich ausgegangen.“ Recht hatte sie: Schon bald zeigte ein Hamburger Verlag Interesse, demnächst kommt Die Spinnerin auf den Markt.

Fotografisch gestaltet sich der Bericht vom Alltag der Anne Selten, Momentaufnahmen bestimmen den Erzählfluß. Einblicke in das Innenleben der Protagonistin gibt es wenige, doch gerade das macht die Geschichte glaubwürdig und bewegend. Denn was St. Georgs „Szene“ angeht, wäre jede Erklärung und jedes tiefere Eindringen durch eine Außenstehende anmaßend. Weil es Nolte natürlich trotzdem wichtig war, „daß die Sachen stimmen“, führte sie Gespräche mit Ärzten, besuchte Gerichtsverhandlungen und Beratungsstellen. Vor allem aber war es der alltägliche Umgang mit den Tatsachen, durch den sie sich zum Schreiben befähigt sah, zum Beschreiben und auch zum Phantasieren.

Ohne in St. Georg zu leben, hätte sie den Roman nicht entstehen lassen können. „Die Gegend drängte es auf“, sagt sie, und Anne ist ihr wie eine „Begleiterin über lange Zeit, die ich sehr gern habe“. Auch heute noch, obgleich das reale Vorbild schon seit einiger Zeit von der Straßenecke „verschwunden“ ist. Nolte hofft, bald selbst mit ihrer Familie aus der Bremer Reihe verschwinden zu können. Trotz Substitutionsprogrammen und Fixerräumen, die sie sehr befürwortet und die ihrer Erfahrung nach die Situation deutlich verbessert haben: Für Kinder ist es hier einfach nicht angenehm, und überhaupt ist die „Verträglichkeitsgrenze“ mittlerweile auch für Annette Nolte überschritten.

Nele-Marie Brüdgam

Der Roman Die Spinnerin erscheint im Frühjahrsprogramm der Edition Galgenberg beim Rasch und Röhring Verlag.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen