piwik no script img

■ Frankreich nimmt nicht Abschied, es schafft einen MythosMitterrand für alle

Über die Toten nichts als Gutes. Nach dieser Devise verfuhren schon die alten Römer. Wer die Gesellschaft der Lebenden verläßt, gewinnt ihre uneingeschränkte Sympathie.

Insofern sind die posthumen Huldigungen und Lobreden auf François Mitterrand nicht erstaunlich. Der Mann, der zu Lebzeiten einer der Umstrittensten und Meistgehaßten seines Landes war, wandelte sich – kaum war er am Montag morgen verstorben – zum unumstrittenen Held aller Franzosen.

Langjährige Gegner des Verstorbenen – von dem einstigen Law-and-order-Innenminister Pasqua über Mitterrands Vorgänger und unterlegenen Gegenkandidaten Giscard d'Estaing bis hin zu seinem früheren Gegenspieler und jetzigen Nachfolger Chirac – priesen sein Lebenswerk und sprachen von ihrer Bewunderung. In Sondersendungen der elektronischen Medien, die bis spät in die Nacht zum Dienstag dauerten und an den folgenden Tagen fortgesetzt wurden, durfte jeder, der sich berufen fühlte, seinen Teil beitragen. Minister, Journalisten, Künstler, Freunde, Verwandte erzählten ihre Version von „Mitterrand und ich“. Nachdem das Defilee der Prominenten zu Ende war, kamen die kleinen Leute an die Reihe: der Hotelier, der ihn in der Bretagne beherbergte, der Bauer, der seine Postkarten sammelte, der Student, der mal mit ihm gespeist hat. Als auch das erschöpft war, rückten die Bäume ins Bild – die, die Mitterrand gepflanzt hat.

Am Tag, als François Mitterrand starb, gab es in Frankreich kein anderes Thema – keine Nachrichten, keine Filme, nicht einmal das Wetter.

Die Medien und die Tausende von Menschen, die sich mit einer Rose in der Hand vor den Stätten einfinden, an denen Mitterand gearbeitet und gewirkt hat, sie nehmen nicht nur Abschied. Sie sind dabei, einen neuen Mythos zu schaffen. Sie befördern Mitterrand im Eiltempo in die Geschichte. Nach General de Gaulle, dessen Vermächtnis heute alle Franzosen, egal welcher politischen Couleur, für sich beanspruchen können, befindet sich nun auch sein lebenslänglicher Gegenspieler Mitterrand auf diesem Weg.

Abwesend bei den Lobeshymnen sind jedoch die französischen Sozialisten. Ihr Chef Jospin hatte am Montag nur eine knappe Erklärung parat. Gestern abend lud er Mitterrands Anhänger zu einer letzten Hommage zur Bastille ein, wo das „Volk der Linken“ am 10. Mai 1981 in strömendem Regen seinen Wahlsieg gefeiert hatte. Damals hatte die Menge gerufen: „Mitterrand – gib uns Sonne“. 15 Jahre später wollten die Sozialisten ihres Gründers schweigend gedenken. Dorothea Hahn, Paris

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen