: Mit jeder Bustour dem Tod ein Stück näher
Wenn die Begegnung mit der Terrakotta-Verkleidung eines Hochhauses zu einer orgiastischen Erfahrung wird und sich jemand mit Spartakus in bester Gesellschaft weiß: „The Cruise“, Bennett Millers Dokumentarfilm über den skurrilsten Stadtführer New Yorks ■ Von Thomas Klein
Die Stimme! „They're writing songs of love“, krächzt Timothy „Speed“ Levitch, „but not for me...“ – und man erkennt George Gershwin nicht mehr wieder. Aber die schrille wie kratzige Stimme gehört zu Speeds Markenzeichen, wie auch die aufdringlich gemusterten, übergroßen Sakkos oder der immer wieder durch die getönten Gläser unter der gelockten Mähne hervorblitzende irre Blick.
Er erwarte ja gar nicht, daß sich die Leute in 15 Minuten, an einem einzigen Nachmittag, wirklich ändern würden, erklärt der wohl skurrilste New Yorker Stadtführer, aber das sei schon irgendwie sein Ziel. So steht er am Mikrofon des zweigeschossigen Touristenbusses und streut seine ganz eigenen Weisheiten in die Ohren der Besucher von auswärts. Geschichtlich angehauchtes Name- dropping („Weniger als drei Straßenblöcke von hier lebte Thomas Payne... Henry James...“) serviert er seinem nicht immer wirklich beeindrucktem Publikum genauso wie die obligaten Handbuchinformationen („Das World Trade Center hat eigene Postleitzahlen...“).
Für Speed ist die Fahrt durch New York City nicht nur ein Job. Es ist eine Lebensaufgabe – „the cruise“ als Selbstfindung und -befreiung eines selbsternannten Chronisten der Stadt, die sich „als lebender Organismus in jeder Millisekunde verändert“. Timothy „Speed“ Levitch sieht sich dabei in bester Gesellschaft – Spartakus sei schließlich der größte historische Cruiser gewesen.
Zwar nähert sich Speed erklärtermaßen mit jedem Schritt, jeder cruise, jeder Bustour ein Stück seinem Tod, doch immerhin kann er seiner Stadt mehr als nur flüchtige erotische Begegnungen entlocken. Weniger wegen der Frauen, denen er begegnet („Ich habe den Job nur wegen der Frauen angefangen“, meint Speed in einem schwachen Moment). Eher wegen der Architektur: Allein die Begegnung mit der Terrakotta-Verkleidung eines Hochhauses gerät Speed zur orgiastischen Erfahrung.
Das alles klingt so interessant wie unterhaltsam und ist es auch. Mit „The Cruise“ porträtiert Bennett Miller einen reichlich verdrehten, aber liebenswerten Spinner, einen großstädtischen Außenseiter, der sich mit halb ausgegorenen philosophischen Betrachtungen, mehr oder weniger zutreffenden Tatsachen und 200 Dollar die Woche durchs Leben schlägt. Nur macht es sich Dokumentarist Miller doch ein wenig zu leicht, wenn er die Speeds-One-Man-Show in Schwarzweiß einfängt. Denn hier trifft letztlich doch nur filmerischer Voyeurismus auf den lustigen (aber auch beunruhigenden) Exhibitionismus seiner Hauptfigur.
Und so bleibt nach eineinviertel Filmstunden, nach amüsanten Begegnungen, viel Lebensphilosophiererei und einer giftigen Abrechnung mit Familie und alten Bekannten hoch über der Brooklyn Bridge zuwenig übrig. Nur an der Oberfläche hat man Timothy „Speed“ Levitch kennengelernt, den ultimativen New Yorker mit der wirklich durchdringenden Stimme.
Forum: heute im Delphi, 19.15 Uhr, und Zoo-Palast (Kino 7), 16.15 Uhr, 12.2. Arsenal, 10 Uhr, 13.2. Akad. der Künste, 17 Uhr
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