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Mit geeinter Stimme gegen die Verhältnisse

Im Vergleich zu anderen Ländern wird auf deutschen Demonstrationen wenig gesungen. Das wollen Berliner Jodel- und Chorgruppen ändern – und die Kraft der Musik zurück auf die Straße bringen

Auf der „MyGruni“-Demo am 1. Mai wurde viel gesungen – „Jogida“ war auch hier mit von der Partie Foto: Fo­to:­ S­te­ve Braun

Von Leonore Kogler

Es gibt Lieder, die kommen mit Ohrwurmgarantie. Dazu gehört etwa das italienische Partisanenlied „Bella ciao“, das wohl jedem Menschen schon einmal durch den Kopf geschwirrt ist, spätestens seit es 2018 als entpolitisierter Sommerhit neu vertont wurde. Gerade wegen seiner Eingängigkeit ist es eines der Lieblingslieder von Elena Gußmann, Mitgründerin und aktives Mitglied von Jogida in Berlin. „Da können wirklich alle mit einsteigen“, sagt sie.

Jogida, das ist kein neuer Lokalableger der längst in Vergessenheit geratenen Pegida-Bewegung. Jogida steht für „Jodel-Offensive gegen Idiotisierung durch Angst“ – und will den Rechten seit ihrer Gründung vor acht Jahren innovative Protestformen entgegensetzen. „Wir haben uns gegründet, um Jodeln als Protestform zu etablieren“, sagt Gußmann. Jodeln wird oft mit konservativen Traditionen oder rechten Stammtischen in Verbindung gebracht. Genau diese Konnotation möchte Jogida überschreiben und die Tradition nicht den Rechten überlassen. Manchmal singe die Gruppe aber auch, so Gußmann, weil das niedrigschwelliger sei – zum Beispiel „Bella ciao“.

Mit ihrem Fokus auf Gesang und Musik besetzen die Pro­test­jod­le­r:in­nen von Jogida eine Leerstelle im deutschen Demonstrationsgeschehen. Anders als etwa in Frankreich ist Gesang bei Protesten im deutschsprachigen Raum nicht fest verankert. „Es gibt Gesellschaften, in denen Gesang einen ganz anderen Stellenwert bei Protesten einnimmt“, sagt die Soziologin Anna Schwenck. Sie ist zur Zeit Vertretungsprofessorin am Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen und hat unter anderem im südlichen Afrika zu musikalischer Mobilisierung geforscht. Dort könne man Musik und Protest gar nicht auseinander denken, so Schwenk. „Die kreative Protestpraxis mit Gesang und Liedern ist im südlichen Afrika komplett anders als das, was wir von hier kennen.“

Trotzdem ist Jogida nicht die einzige Gruppe in Deutschland, die musikalisch protestiert. „Singen ist einfach eine Möglichkeit für die Zivilgesellschaft, sich einzubringen“, sagt Christina Hoffmann-Möller. Sie ist Leiterin des politischen Hanns-Eisler-Chors, den sie 1973 mitgegründet hat. Seitdem probt der Chor regelmäßig, gibt Konzerte und hat CDs aufgenommen. „Als Chor oder singende Gruppe verortet man sich als soziales und politisches Wesen“, sagt Hoffmann-Möller. „Man gestaltet mit dem Singen eine Zusammengehörigkeit und eine Form von Solidarität.“ Singen ermögliche, sich gemeinschaftlich gegen jede Form der Unterdrückung zu positionieren.

Aber warum haben es musikalische Protestformen in Deutschland so schwer? Die Chorleiterin erzählt, politische Musik habe in Deutschland eigentlich eine lange Tradition. „Musik als Protest taucht bereits mit den Bauernaufständen im 16. Jahrhundert auf, zieht sich über den 30-jährigen Krieg, die 1848er Revolution und die Arbeiterbewegung bis in die heutige Zeit.“

Insbesondere in der kommunistischen Ar­bei­te­r:in­nen­be­we­gung habe Musik eine große Rolle gespielt. Hanns Eisler etwa habe Kampflieder komponiert und dafür auch Bertolt Brechts gesellschaftskritische Texte vertont. „In Eislers Musik, häufig in Kombination mit Brechtschen Texten, zeigt sich eine besonders prägnante Verbindung von hervorragender Musik und gesellschaftlichem Engagement“, schwärmt Hoffmann-Möller. Deshalb habe sie als engagierte Studierende den Eisler-Chor mitgegründet und nach ihm benannt. Bekannte Lieder von Eisler sind zum Beispiel „Resolution der Kommunarden“ oder das „Solidaritätslied“.

Unterbrochen worden sei diese musikalische Protesttradition allerdings durch den Nationalsozialismus. In der Zeit sei viel Liedgut verloren gegangen, sagt die Chorleiterin. Das wirke sich bis heute auf die Situation in Deutschland aus. „Dazu kommt, dass die Deutschen den Hang haben, sehr kopflastige Protestlieder zu machen“, sagt sie. „Das sind Lieder mit viel Text und nicht so gängigen Harmonien.“ Sie selbst finde daran großen Gefallen – aber es führe eben dazu, dass nicht alle Menschen auf der Straße sofort mitsingen können.

Schlummert in Gesang und Musik also noch viel ungenutztes Potenzial für soziale Bewegungen? Soziologin Schwenck ist jedenfalls überzeugt, dass Gesang eine wertvolle „symbolische Ressource“ für soziale Bewegungen sein kann. „Die Mischung der Klänge hat eine neue Qualität. Sie ist mehr als die Summe der einzelnen Teile“, sagt sie. Durch das gemeinsame Singen könne man sich als Teils eines kollektiven Klangkörpers wahrnehmen. Das erzeuge ein Gemeinschaftsgefühl, ähnlich wie beim Skandieren von Sprechchören. „So kann in besonderen Situationen Mut hergestellt werden, Kraft und Entschlossenheit.“

Auch Elena Gußmann von Jogida hat diese Erfahrungen gemacht. Wenn Protestierende singen, habe das eine ganz besondere Wirkung, sagt sie. „Man sieht dann strahlende Gesichter, Leute, die Tränen in den Augen haben oder Gänsehaut. Und man merkt: Wow, wir können zusammen laut sein. Wir wollen das Gleiche und merken, dass wir nicht alleine sind. Wir können uns organisieren und synchronisieren.“

„Die Deutschen haben einen Hang zu kopflastigen Protestliedern“

Christina Hoffmann-Möller, Leiterin Hanns-Eisler-Chor

Anna Schwenck findet, vor allem die Körperlichkeit und Individualität der Stimme unterscheide Gesang von instrumentaler Musik. „Die menschliche Stimme ist wie ein Fingerabdruck, etwas ganz Individuelles“, sagt sie. Sie weist auch darauf hin: „Man hat seine Stimme immer dabei, auch spontan“. Jodlerin Gußmann meint, dass die eigene Stimme „auch immer mit politischer Meinungsäußerung zu tun“ habe: Auch bei Wahlen werde abgestimmt und zugestimmt, man erhebe die Stimme, es gibt ein Stimmrecht … „Stimme ist gleichzeitig etwas sehr Persönliches und Politisches.“

Nichtsdestotrotz gibt es auch politische Gruppen, die instrumentale Protestmusik machen. Ein Beispiel ist die bundesweit auftretende Gruppe „Lebenslaute“. Die Musik- und Aktionsgruppe macht einmal jährlich eine große musikalische Protestaktion als Orchester. Eine Besonderheit der „Lebenslaute“: „Bei der Wahl unserer Konzert-Orte lassen wir uns nicht durch herrschende Vorschriften einschränken“, schreibt die Gruppe auf ihrer Website. Sie suche die politische Konfrontation durch Blockaden, Besetzungen, Entzäunungen oder Betreten verbotener Orte.

Für Elena Gußmann von Jogida steht dagegen im Mittelpunkt, das alle mitmachen können. „Manche Menschen blockieren sich und denken: ‚Ich muss erst mal rausfinden, ob ich Sopran oder Tenor singe, dann muss ich Noten lesen lernen …‘ Das brauchen wir nicht.“ Die Gruppe wolle einfach zum Singen motivieren, vereint durch eine Solidarität und eine antifaschistische Haltung. „Und wenn es schief klingt, klingt es schief. Das ist dann auch nicht schlimm.“

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