berliner szenen: Mit der U7 nach Spandau
Hermannplatz.Ist schon komisch, wenn einer sich nach der Abfahrt gleich neben der Tür mit Gesicht zur Fahrzeugwand in die „asiatische Hocke“ begibt, den Kopf senkt und es im Abteil kurze Zeit später nach verbranntem Kunststoff riecht. Ich stehe auf, um zu gucken, was der Kollege da treibt. Er hält ein Feuerzeug unter einen Schnipsel Alufolie, auf der etwas wegschmurgelt, dessen Dämpfe er durch ein Plastikrohr einsaugt. Ich gehe ans andere Ende des Wagens.
Südstern.„Ich habe heute Abend keine Bleibe“ – das ganze Kleingeld aus der Börse: 90 Cent.
Mehringdamm.Der Typ im ausgeleierten grauen Jogginganzug, der sich mir gegenüber hinsetzt, ist unappetitlich genug – aber was ist das für ein transparenter Plastikbeutel an seiner Hüfte, der mit einer dunkelgelben Flüssigkeit gefüllt ist und an einem Schlauch hängt, der aus dem Bund seiner Schlabberhose kommt?
Bayerischen Platz.Mr. Offener-Harnblasen-Ausgang verlässt den Zug.
Adenauerplatz.Zigeunerweisen. Ein Akkordeonspieler und eine Frau mit Tamburine stimmen „La Paloma“ an. Nach wenigen Takten spielt er nur noch Variationen, sie geht mit Basecap zum Geldsammeln durchs Abteil.
Siemensdamm. Eine gebückte, alte Frau, die einen Puppenkinderwagen schiebt, steigt ein. Sie trägt einen lila Anorak, die Kapuze so zugezogen, dass nur eine spitze Nase aus dem Oval ragt. Setzt sich, nimmt eine Babypuppe aus dem Kinderwagen, wiegt sie, redet beruhigend auf sie ein.
Zitadelle Spandau.Die alte Frau schiebt mit ihrem Kinderwagen ab.
Altstadt Spandau.Harte Trinkerszene auf dem Bahnsteig. Schnäpse, Bierdosen, zu ihren Füßen ausgedrückte Kippen.
Die Rückfahrt später dann erfolgt ohne Höhepunkte.
Tilman Baumgärtel
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