: Mit Volksentscheiden ins „eurotopio“
■ Das „erste“ Buch über transnationale Demokratie kommt aus der Schweiz
Man kennt die Klage: Der Nationalstaat ist für die Lösung vieler Probleme zu klein geworden, transnationale Lösungen führen jedoch zu Demokratiedefiziten. Warum aber gibt es keine Konzepte transnationaler Demokratie? fragten sich vier Politikwissenschaftler aus der Schweiz. Ihrer Meinung nach haben sie jetzt das „erste Buch zur transnationalen Demokratie“ vorgelegt.
Doch schon der Untertitel macht stutzig: „Impulse für ein demokratisch verfaßtes Europa“ heißt es da. Ein Pionierwerk ist es also nicht, denn mit Büchern über die Legitimationsprobleme der europäischen Zusammenarbeit kann man leicht Schrankwände bestücken. Über diesen kleinen Bluff könnte man hinwegsehen, wenn der neu eingeführte Begriff der „Transnationalität“ neue Einsichten brächte. Doch die Vagheit des Begriffs verleitete eher dazu, je nach Gusto zwischen europäischer und globaler Ebene hin- und herzuwechseln.
Da polemisiert beispielsweise Rolf Büchi heftig gegen den Nationalstaat, der einen „Kriegerethos“ verkörpere und durch die inhärente Abgrenzung von „innen“ und „außen“ Demokratiefähigkeit behindere. Auf der anderen Seite wird mit der europäischen Demokratie aber ebenfalls ein Wir-Projekt propagiert, ohne daß deutlich wird, warum hier die globale Sichtweise nun besser gelingen sollte. Gerade in der Flüchtlingspolitik hat die Europäische Union die Einzelstaaten an Humanität bisher wirklich nicht übertroffen. Und gegenüber der Weltmarktkonkurrenz von USA, Japan und den „Tigerstaaten“ argumentiert die derzeitige Europapolitik letztlich mit denselben Standortargumenten wie die einzelnen Mitgliedsstaaten.
Und obwohl das eher zu dick geratene Buch sehr viele Aspekte der „transnationalen“ Demokratiediskussion anschneidet (von der feministischen Perspektive bis zu den entfesselten internationalen Finanzmärkten), steht alles doch unsystematisch nebeneinander. Kohärent sind nur die Beiträge, die sich mit der Arbeit der transnationalen Demokratiebewegung „eurotopio“ beschäftigen, der sich die meisten AutorInnen verbunden fühlen. Dieses europaweite Netzwerk von Gruppen und Einzelpersonen hat sich die Schaffung einer europäischen Verfassung mit stark direkt demokratischen Elementen zum Ziel gesetzt. Der in dem Band erläuterte jüngste eurotopia-Vorschlag plädiert für eine „EU-Verfassungsinitiative“. Danach müßte ein europäischer Verfassungskonvent einberufen werden, wenn zehn Prozent der EU-Bevölkerung, also rund 30 Millionen Menschen, dies fordern. Die dort erarbeitete Verfassung, die die bisherigen völkerrechtlichen Verträge ablösen soll, müßte dann in einem europaweiten Referendum bestätigt werden.
Wahrscheinlich hätte es dem Buch gutgetan, wenn es sich intensiver mit der Lieblingsidee seiner HerausgeberInnen, den europäischen Volksentscheiden, beschäftigt hätte. So wäre es reizvoll gewesen, der Frage nachzuspüren, ob EU-weite Referenden ein Mittel sein könnten, die Herausbildung einer gemeinsamen öffentlichen Meinung zu fördern. Immerhin sehen viele ernstzunehmende IntegrationsskeptikerInnen im Fehlen einer europäischen Zivilgesellschaft das entscheidende Hindernis für eine wirksame Demokratisierung der EU. Erstaunlich auch, daß sich kein Beitrag mit dem Einwand auseinandersetzt, daß derartige Volksabstimmungen mangels gemeinsamer „Identität“ leicht zu transnationalen Zerreißproben zwischen Nord- und Südeuropa führen könnten. Warten wir also auf das „zweite“ Buch über die transnationale Demokratie. Christian Rath
Roland Erne, A. Gross, B. Kaufmann, H. Kleger (Hrsg.): „Transnationale Demokratie. Impulse für ein demokratisch verfaßtes Europa“. Realotopia-Vlg. Zürich, 456 Seiten, 35 DM
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