: Mit 31,9 Jahren zur Bundeswehr
■ Trotz sinkender Sollstärke: Bundeswehr zieht Jung-Greise aus West-Berlin zum Dienst am Vaterland ein/ So soll einer sogar am Vorabend seines 32. Geburtstages einrücken/ Gegen den Barras helfen nur noch neue Zurückstellungsanträge
West-Berlin. Alte Herren zur Bundeswehr: Ein 31jähriger Sinologe aus West-Berlin hat jetzt seine Einberufung zur Bundewehr erhalten. Der Mann soll am 2. Januar 1991 um 18 Uhr — exakt sechs Stunden vor seinem 32. Geburtstag — seinen Dienst beim Sanitätsbataillon 11 in Leer/Ostfriesland antreten. Gegen den Einberufungsbescheid vom Kreiswehrersatzamt Bielefeld kann der Mann zwar Widerspruch einlegen, dies entbindet ihn jedoch nicht vom Dienstantritt. Der Sinologe war 1978 als Wehrflüchtling nach West-Berlin gekommen und ist nach eigenen Angaben bereits als Kriegsdienstverweigerer anerkannt — kurz vor der Abreise nach Berlin hatte er beim Bundesamt für den Zivildienst gemeldet, daß er eine Zivi-Stelle habe. Das Amt berief ihn aber nicht ein. Möglicherweise wird der 31jährige nun von der Bundeswehr einberufen, weil sein Anerkennungsverfahren genau zwischen die von der SPD/FDP-Koalition 1977 eingeführte Verweigerung »per Postkarte« und den kurz danach wieder installierten Gewissenstest fiel.
Ebenfalls gestern bekam die taz Nachricht von zwei weiteren Einberufungen — beide Betroffenen sind über 30 Jahre alt. Bei der »Kampagne gegen die Wehrpflicht« gingen inzwischen mehr als ein Dutzend solcher Meldungen ein. Mal sind es »Überprüfungen der Zurückstellung«, mal »Ankündigungen zur Heranziehung« oder Aufforderungen zur Musterung und Nachmusterung. Auch hier sind fast alle betroffenen Männer über 30 Jahre alt.
Die »Altfälle«, die jetzt die unliebsame Post bekommen, werden von ihren Kreiswehrersatzämtern in der »Heimat« einberufen, denn für die Wehrverwaltung gilt der Wohnort im Gebiet der früheren BRD weiter als »Lebensmittelpunkt« — hat der Betroffene doch unter Umständen als Student Unterhaltszahlungen von dort bekommen. Diese extra für die »Berlin-Flüchtlinge« ersonnene Konstruktion hat auch vor den Verwaltungsgerichten Bestand.
Daß nun trotz sinkender Sollstärke der Bundeswehr die Über-30-Jährigen an die Waffen müssen, zeigt, wie nötig eine gesetzliche Ausnahmeregelung für Berliner gewesen wäre, wie sie der Senat im September anstrebte. Nach dem Willen der Berliner Regierung sollten alle am Vereinigungstag zwischen 16 und 32 Jahre alten Männer vom Vaterlandsdienst verschont bleiben. Doch die Bundesregierung lehnte dies ab — keine Rechtssicherheit für die Betroffenen. Statt dessen präsentierte Bundesverteidigungsminister Stoltenberg einen (rücknehmbaren) Erlaß, der angeblich alle über 25 Jahre verschonen soll, die drei Jahre lang nichts von den Wehrbehörden gehört haben. Doch die Regelung zählt die Zeit einer »Zurückstellung« ausdrücklich nicht mit und nimmt auch die »Wehrflüchtlinge« ganz aus. Nun bleibt den Betroffenen nur, Anträge auf Zurückstellung zu stellen — zur Zurückstellung über das 32. Lebensjahr hinaus muß allerdings eine »unzumutbare Härte« nachgewiesen werden.
Die »Kampagne gegen die Wehrpflicht« bitte alle, die nun Einberufungen erhalten, sich dort (Telefon 8621331) zu melden. kotte
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