Missbrauch im Bistum Münster: „Menschlich und moralisch versagt“
Vier Tage nach Veröffentlichung einer Missbrauchsstudie äußert sich Münsters Bischof Genn. Er gesteht Fehler ein, lehnt einen Rücktritt aber ab.
Es sei seine feste Überzeugung, dass Betroffene sexueller Gewalt einen Anspruch auf „umfassende, unabhängige, seriöse Aufarbeitung“ hätten. Deshalb begrüße er die Studie der Universität Münster sehr. „Mein Respekt gilt den Betroffenen, die bereit waren, den Wissenschaftler*innen der WWU ihre Leidensgeschichte zu erzählen“, so Genn. Vor einem „Harmoniezwang“ mit den Betroffenen wolle er sich hüten, da er verstehe, dass das Leid von Betroffenen zu Unversöhnlichkeit führen könne. Trotzdem richtete er eine Entschuldigung an alle Betroffenen sexuellen Missbrauchs in der Kirche.
Für die Studie hatten Wissenschaftler*innen Fälle sexuellen Missbrauchs im Bistum Münster in der Zeit von 1945 bis 2020 aufgearbeitet. Mindestens 196 Kleriker identifizierten sie als Täter, mindestens 610 Opfer – die Dunkelziffer dürfte nach Aussage der Wissenschaftler*innen deutlich höher sein. Einen Fokus legte die Studie der Uni auf die Folgen des Missbrauchs für Betroffene und auf die Rolle der „Vertuscher“.
Hier machen sie jahrzehntelanges Versagen und Strafvereitelung der Bischofsleitungen aus. Das Bistum habe außerdem zu lange gebraucht, „um effiziente Strukturen und Verfahren im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen institutionell zu verankern.“
Bislang keine Rücktritte von Bischöfen
Da Genn nach der Vorstellung der Studie Konsequenzen angekündigt hatte, stand auch die Frage nach einem Rücktritt des Bischofs im Raum. Auf der Pressekonferenz sagte Genn nun, dass er das „Unbehagen in der Öffentlichkeit“ verstehe, dass bislang kein Bischof aufgrund des sexuellen Missbrauchs zurückgetreten sei und es nur abgelehnte Amtsverzichte an den Papst, wie von Kardinal Reinhard Marx, oder noch ausstehende, wie von Kardinal Rainer Maria Woelki, gegeben habe. Für seine Person habe er sich mit der Frage eines Rücktritts intensiv auseinandergesetzt und sei zu dem Schluss gekommen, dass ein Rücktritt nicht infrage komme: „Ich glaube nicht, dass ich sexuellen Missbrauch vertuscht habe.“ Genn wolle seine restliche Amtszeit dafür nutzen, Betroffenen sexuellen Missbrauchs zuzuhören und ihre Perspektiven für die nötigen Aufarbeitungen und Veränderungen in den Kirchen und kirchlichen Gremien einzubringen.
Seine bereits verstorbenen Amtsvorgänger hätten „schwere Fehler gemacht“ und die Institution statt die Betroffenen geschützt. Wie dieses Fehlverhalten auch öffentlich kenntlich gemacht werden könne, müsse geprüft werden. Die Bischofsgruft im Dom, wo sie begraben liegen, werde vorerst geschlossen. „Sie ignorierten, dass sie Menschen durch ihr Verhalten weiteren Gefährdungen aussetzten“ und hätten „menschlich und moralisch versagt“, sagte Genn. Dass so das Leid der Betroffenen über Jahre nicht gelindert, sondern vergrößert wurde, sei „entsetzlich und beschämend und bleibt für mich unbegreiflich“.
Laut Genn zeige die Studie zum sexuellen Missbrauch einmal mehr, dass es eine „massive Diskrepanz zwischen Predigen und Handeln“ bei den Tätern und den Verantwortlichen, die die Gewalt durch Vertuschung möglich machten, gegeben habe. Er selbst habe in konkreten Fällen zu milde gehandelt und sich zu sehr auf die Aussagen von anderen Verantwortlichen verlassen. Konkret entschuldigte er sich für Versäumnisse aus seiner Zeit als Bischof von Essen von 2003 bis 2009, wo er auch mit dem Mehrfachtäter Priester H. zu tun hatte.
Deutliche Worte fand Genn zu den ebenfalls in der Studie angesprochenen systemischen Faktoren in der Kirche, die sexuellen Missbrauch begünstigen. Es habe ein „völlig überhöhtes Priesterbild“ und eine „gänzlich falsch verstandene Mitbrüderlichkeit“ bei den Vertuschern des Missbrauchs gegeben. „Jede Form von Klerikalismus muss ein Ende haben“, so Felix Genn. Auch die „rigide Sexualmoral“ der katholischen Kirche müsse der Vergangenheit angehören, denn diese habe dazu geführt, dass man über die Taten nicht sprach. Unter anderem in diesem Zusammenhang sprach Genn die Reformbewegung „Synodaler Weg“ an. Er wolle sich dafür einsetzen, dass die Reformen Eingang in die katholische Kirche finden.
„Männerbündische Strukturen“
In der Studie schreiben die Verfasser*innen auch davon, dass „männerbündische Strukturen“ dazu führten, dass Täter immer weiter versetzt wurden und weiteren Kindern Gewalt antun konnten. Bischof Genn kündigte deshalb an, dass er „Macht abgeben“ wolle. Personalentscheidungen im Bistum Münster sollten in Zukunft transparenter, nachvollziehbarer und partizipativer getroffen werden. Außerdem wolle er sich „im Rahmen einer Selbstverpflichtung an die Entscheidungen diözesaner Gremien binden.“
Genn kündigte an, dass sein Bistum eine innerkirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit durch einen Kirchenrechtler prüfen lasse, um auch die eigenen bischöflichen Entscheidungen einer unabhängigen Kontrolle zu unterwerfen.
Im Bistum Münster wird außerdem eine unabhängige Aufarbeitungskommission eingesetzt, der unter anderem der leitende Wissenschaftler der Studie Thomas Großbölting sowie zwei Betroffene sexuellen Missbrauchs angehören werden.
Das Bistum Münster habe bereits Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch getroffen, so Genn. Unter anderem hätten mehr als 50.000 Mitarbeitende, darunter alle Seelsorgerinnen und Seelsorger, seit 2011 im Bistum Münster an Präventionsschulungen teilgenommen. Am Freitag wurde auch ein Portal eingerichtet, unter dem Betroffene anonym sexuellen Missbrauch melden könnten. Diese Meldungen würden alle der Staatsanwaltschaft Münster übergeben. Insgesamt habe das Bistum Münster bislang zwei Millionen Euro an Betroffene sexuellen Missbrauchs gezahlt, bei der dafür eingerichteten Stelle seien bislang 227 Anträge eingegangen.
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