Minderheitsregierung in Thüringen: Ein wenig euphorisches Ja
„Nicht ‚lindnern‘, sondern Verantwortung übernehmen“: SPD und Grüne haben dem Koalitionsvertrag in Thüringen zugestimmt.
Bei der Landesdelegiertenkonferenz der Bündnisgrünen am Samstag in Apolda stimmten 93 der 109 Delegierten für den Vertrag. Die Linke, mit 31 Prozent Wählerstimmen mit Abstand der größte Koalitionspartner, befragt noch bis zum Ende der kommenden Woche ihre Mitglieder.
„Nicht ‚lindnern‘, sondern Verantwortung übernehmen“, lautete unter Anspielung auf den FDP-Rückzug nach der Bundestagswahl 2017 der generelle Tenor bei beiden Parteien. Zwischen Spitzenpersonal und Parteibasis bestehen in dieser Gestaltungsabsicht kaum Differenzen.
„Lieber mitgestalten als Opposition“, gab SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee die Linie vor. Dabei mischt sich der ambitionierte Wunsch nach Umsetzung politischer Ziele mit der Einsicht in die Unmöglichkeit, jenseits der AfD eine mehrheitsfähige Koalition zu bilden.
„Man will, aber kann nicht“
Von Euphorie war also wenig zu spüren. Den Hauruck-Optimismus eines immer strahlenden Wolfgang Tiefensee empfinden manche Thüringer Sozis sogar als aufgesetzt. Steffen Dittes, stellvertretender Landesvorsitzender der Linken, sprach vielmehr von einem „mit angezogener Handbremse formulierten Koalitionsvertrag“.
Als Gastredner bei beiden Parteien kamen von ihm die klarsten strategischen Ansagen mit Blick auf die kommende Arbeit einer Minderheitskoalition. Er sprach von einem „linken Wertemodell“, das man einer nach rechts tendierenden Mehrheit entgegensetzen müsse. Das schließe ein, dass die unterschiedlichen Koalitionspartner über das Politikangebot links der Mitte auch produktiv streiten.
Wie schwierig eine solche Minderheitskonstellation durchzuhalten ist, schilderte aus eigener Erfahrung als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen Norbert Walter-Borjans, der neue SPD-Vorsitzende. Gleichwohl plädierte auch er für die Fortsetzung von RRG.
In der entscheidenden Frage der zumindest partiellen Projektzusammenarbeit mit CDU oder FDP zeigten sich Unterschiede. Lutz Liebscher, SPD-Landtagsabgeordneter aus Jena, wollte „Signale an CDU und FDP“ senden. Bei den Bündnisgrünen hält sich solcher Optimismus in Grenzen, vielmehr wird eine Blockade durch den Mitte-Rechts-Block unter Einschluss der AfD befürchtet.
Gleichwohl war in Apolda auch von Chancen die Rede, die der Zwang zur Diskussion angestrebter Vorhaben über die Koalition hinaus bringt. Grünen-Fraktionschef Dirk Adams fühlt das Hemmnis eines „Man will, aber kann nicht“, sieht aber Durchsetzungsmöglichkeiten jenseits der Parlamentsmehrheiten beispielsweise über die kommunale Ebene.
Grüne wählen neuen Landesvorstand
Beiden Juniorpartnern stecken aber die Stimmenverluste bei der Landtagswahl spürbar „in den Knochen“, wie die bisherige Umweltministerin Anja Siegesmund auf der Landesdelegiertenkonferenz der Grünen formulierte. Die SPD wirkt zerknirschter. „Nicht der Wähler ist schuld, sondern wir“, wird vor dem Tagungssaal das 8,2-Prozent-Ergebnis kommentiert. „Die Leute haben die Nase von Erklärungen!“
In dieser defensiven Situation werden die Rufe nach Profil und Unverwechselbarkeit laut. Roland Merten, der ehemalige Staatssekretär im Kultusministerium, beklagte, dass die SPD als Partei der Bildung dieses Ministerium aufgegeben habe und lehnte den Koalitionsvertrag ab. Den Grünen tut weh, dass die Zuständigkeit für Migration ohne Not aus dem Justizministerium in das linksgeführte Sozialministerium wandert. Die bisherige grüne Migrationsbeauftragte Miriam Krupper wird dort allerdings Abteilungsleiterin.
Die Thüringer Bündnisgrünen wählten in Apolda zugleich einen neuen Landesvorstand. Neue Sprecher sind Ann-Sophie Bohm-Eisenbrandt und der Regisseur Bernhard Stengele.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung