Fixierung auf das große Geld: Milchgesichter, die von Millionen träumen
Wann ist aus dem Segelschuhträger der neue Superheld geworden, fragt sich unsere Autorin. Vielleicht als allen klar war, dass nur erben hilft?
V or nicht allzu langer Zeit werde ich Zeugin einer bizarren Szene. Ich schlendere gerade an einem Restaurant vorbei, da bemerke ich großen Aufruhr im Außenbereich. Kurz zuvor ist dort eine Passantin auf die Gäste losgegangen, soll sie sogar geschlagen haben. Ich sehe noch, wie die alte Frau leise schimpfend davonhumpelt. In der Hand hält sie eine Tüte mit Pfandflaschen.
Ein Kellner eilt herbei und erkundigt sich nach dem Befinden der Gäste. Als wenig später ein Polizeiwagen vorfährt, springt ein junger Schnösel auf, um das Gesehene zu Protokoll zu geben. Es dauert nicht lange, da sitzt er wieder im Kreis seiner Freunde, die so wie er Poloshirts und teuer aussehende Uhren tragen. Die vier geben sich weltmännisch-jovial: „Dit is Berlin “ Dann sprechen sie gut gelaunt über Aktienanteile und Steuerschlupflöcher.
Neuer Tag, neue Szene: Zwei junge Männer spekulieren darüber, wie sinnvoll ein Masterstudium für eine Karriere in der Privatwirtschaft wäre. „Damit kannst du dann so was wie ‚Head of Innovation‘ oder ‚Business Development Director‘ werden“, schwärmt der eine und zieht unbeholfen an seiner Zigarette. „Aber in was für einem Unternehmen willst du später arbeiten?“, fragt der andere. Das sei ihm egal, sagt der Qualmer. Es ginge bloß darum, so schnell wie möglich in eine Führungsposition zu kommen: „Allein das Einstiegsgehalt ist insane.“
Mit seiner Fixierung auf das große Geld ist der Student nicht alleine. Ob auf der Straße oder bei Social Media: Immer häufiger begegnen mir Leute, die sehr reich werden wollen, und welche, die es bereits sind. Biedere Rich-Kid-Marken wie Barbour, Lacoste oder Ralph Lauren sehe ich momentan an jeder Ecke. Bei Instagram oder Tiktok cruisen selbsternannte Krypto-Experten durch Dubai. Andere verkosten teure Dessert-Früchte von Patissier Cédric Grolet. Ich merke, wie sich Ärger in mir ausbreitet.
Über Lindner herzlich gelacht
Wann ist es passiert, dass aus dem Segelschuhträger der neue Superheld geworden ist? Über das „Big Business“ aus dem Kinderzimmer von Christian Lindner haben wir doch alle noch herzlich gelacht.
Klar, es gab auch schon damals Leute, die mit dreißig ihre erste Million verdient haben wollten, um sich davon zum Beispiel einen eigenen Weinberg zu kaufen. Und ich werde nie vergessen, wie einmal auf einer Feier ein greiser Unternehmer postulierte, man müsse die Hälfte aller Schulfächer abschaffen, um stattdessen den Segen einer ordentlichen Wirtschaftsbildung zu verbreiten.
Okay, ein paar Grundlagen schaden nicht, aber wir leben ohnehin im Zeitalter der Entrepreneure und Privatinvestoren. Und jeden Tag ziehen ein paar mehr Menschen Materialismus inhaltlicher Tiefe und Sinnstiftung vor. Geld wie einen Gott anbeten, darüber schrieb kürzlich auch Der Spiegel.
Gründe gibt es viele: die Wohnraumkrise, steigende Preise, ein sich auflösendes Sozialsystem. Von neoliberaler Politik befeuert geraten Werte wie Nächstenliebe oder Solidarität zunehmend unter die Räder. Stattdessen zählt vor allem, wo man selber bleibt. Für die Villa mit Infinitypool raffen die Milchgesichter heute Geld zusammen. Dicke Karre, ausgesorgt.
Es ist die Neuauflage vom berühmten Selfmademan, aber sie hat einen Rechenfehler: All das werden sich in den allermeisten Fällen nur reiche Erben leisten können. Aber wer später Flaschen sammeln muss, hat sich einfach nicht genug angestrengt, wa?
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