Mietenwatch Gentrifizierungskiez: Wenn der Wedding wirklich kommt
Trotz Armut liegen die Angebotsmieten in Humboldthain Nordwest bei über 20 Euro. Der Verdrängungsdruck auf die Mieter ist enorm.
Zur anderen Hälfte gehören Gertner und sein Projekt in der Gerichtstraße: Im Hinterhof eines über 100 Jahre alten Fabrikgebäudes betreibt er die Fabrik 23: Großzügige Lofts für Film- und Fotoproduktionen und private Events. „Til Schweiger hat schon hier gedreht“, sagt Gertner. Momentan wird der Hof der Fabrik 23 renoviert. 20 Millionen Euro werden investiert, doch die „Fassade bleibt, wie sie früher war, auch die Einschusslöcher“.
Seit zehn Jahren ist Gertner vor Ort. Während die Fabrik vor allem von außerhalb gebucht wurde, habe sich in der direkten Umgebung lange nichts getan. Den „Kick-off“, wie er es nennt, habe der Kiez erst mit den neuen Nachbarn erlebt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo einst das Stadtbad Wedding war, steht seit vergangenem Jahr ein klotziges Neubauensemble: das Studio B2 bietet möblierte Studentenwohnungen für Kinder reicher Eltern.
„Studio B2, das neue Gesicht für zentrales Wohnen, fügt sich in die Nachbarschaft ein – und steht doch ganz für sich selbst. Studentenwohnen mit Mehrfachnutzen: Es stellt dringend gesuchte Wohnungen für Berlin bereit. Und es bietet eine Anlageform mit erfreulicher Renditeaussicht.“ (1-Zimmer-Appartement, 23 qm, 561 Euro warm, Angebot auf Immoscout)
Die 40. Folge des Podcasts Lokalrunde - das Stadtgespräch aus Hamburg und Berlin beschäftigt sich mit dem Zustandekommen und den Ergebnissen des Projekts Mietenwaatch. Die Auswertung von 80.000 Wohnungsangeboten zeigt: Berlin ist für die Mehrheit nicht mehr bezahlbar. Außerdem: Die Klimabewegung Extinction Rebellion blockiert gerade Berlin, aber sie eckt auch an: Warum provoziert sie vor allem linke Aktivisten?
„Bislang hieß Gentrifizierung hier ausschließlich Anstieg der Mieten“, sagt Gertner, der selbst in Prenzlauer Berg wohnt. Nun aber zeichne sich der Wandel ab. Am nahen Nettelbeckplatz, dem Zentrum des Kiezes und zugleich Treffpunkt der Trinkerszene, hat mit dem Mirage ein erstes Hipster-Cafe eröffnet, mit Latte macchiato für drei Euro und Kunden mit Apple Notebooks. Gertner sagt: „Das ist eine Bereicherung. Zum ersten Mal gibt es hier guten Kaffee. Davor gab’s nur Netto.“
Der Druck ist enorm
Netto gibt es immer noch, aber der Druck auf das Viertel und seine alteingesessenen Bewohner ist enorm. Genauer gesagt, so groß wie nirgendwo sonst in Berlin. Das Projekt Mietenwatch hat 477 Kieze in Berlin verglichen, ganz oben – nach dem angrenzenden Neubauviertel Europa-City an der Heidestraße – steht Humboldthain Nordwest. Nirgends ist der Verdrängungsdruck, der sich aus dem Verhältnis der Angebotsmieten und dem Sozialstatus der Bevölkerung ergibt, größer. Hier trifft eine überwiegend arme Bevölkerung, die niedrige Bestandsmieten zahlt, auf explodierende Preise bei Neu- und Wiedervermietung.
Knapp 14.000 Menschen leben in dem Gebiet zwischen Müller- und Brunnenstraße, der Anteil an Transferleistungsbeziehern von mehr als 40 Prozent übersteigt jenen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Der Durchschnittspreis aller 576 Wohnungsangebote im Viertel, die in den vergangenen 18 Monaten in die Auswertung von Mietenwatch eingeflossen sind, liegt bei utopischen 27,63 Euro warm pro Quadratmeter. Etwa die Hälfte der Angebote entfällt auf die Studenten-Mikroappartements, aber auch andere Anbieter schlagen zu. Bei Immoscout liegt der durchschnittliche Mietpreis in der Gegend bei mehr als 21 Euro.
Die Ertragslücke zwischen aktuellen und potenziellen Mieten ist also riesig – und damit auch der Anreiz, die bisherigen Mieter loszuwerden. Wer seine Wohnung verliert, hat keine Chance, eine neue bezahlbare Wohnung im Kiez zu finden. In der Folge steigt die Zahl derer, die lange in ihren Wohnungen leben. Umzüge werden vermieden, Menschen rücken zusammen, schränken ihre Lebensqualität ein, um die Miete zu finanzieren.
Milieuschutzgebiet seit Dezember
Der Bezirk Mitte hat in einer Untersuchung ein „sehr hohes Aufwertungspotenzial“ festgestellt und das Viertel im Dezember zum Milieuschutzgebiet erklärt. Gleichwohl heißt es vom Bezirk, es bestünden „ein bisher noch geringer Aufwertungsdruck sowie eine mittlere Verdrängungsgefährdung“. Beide Annahmen sind angesichts der Daten von Mietenwatch nicht zu halten.
„Hier wurde eine ideale Wohnsituation für Familien, junge Paare wie auch Singles am Puls der Zeit und nah am Geschehen geschaffen. Das Zusammenspiel dieser unglaublichen Berliner Lage und einem modernen Wohnkomfort ist besonders für langfristige Mieter attraktiv.“(2-Zimmer-Wohnung, Liesenstraße 4: 86 qm, 1.436 Euro warm, Angebot auf Immoscout)
Einer, der den Druck spürt, wohnt und arbeitet in einem Hinterhof hinter der Fabrik 23. Der Metallbildner Lorenz Bösl mietete sich vor fünf Jahren in die Werkstatträume ein. Inzwischen wurde seine Miete auf 12 Euro verdoppelt. Sein Atelier teilt er sich nun mit dem freischaffenden Künstler Fritz Gobbesso. Neue Brandschutzbestimmungen und die steigende Miete haben ihn gezwungen, seinen eigenen Raum in der Fabrik aufzugeben. Stattdessen kämen nun andere: „Selbst bei den spießigsten Firmen, von Vodafone über die Volksbank bis McKinsey, hat es sich herumgesprochen, dass es cool ist, im schrabbeligen Wedding zu feiern“, sagt Gobbesso
Bösl ist dabei, sich einen Lkw auszubauen. „Eine Wohnung hier zu suchen, darauf hätte ich keinen Bock.“ Zwar gebe es noch alte Strukturen, wie die nahe Wiesenburg mit ihren günstigen Künstlerateliers oder den türkischen Kassettenladen, dem kürzlich die Miete auf 160 Euro monatlich verdoppelt wurde. Doch die Geschäfte, die sich nicht an die ursprüngliche Nachbarschaft richten, ergreifen immer mehr Raum. „Im neuen Burger-Laden gibt’s Angus-Rind für 16,90 Euro – wer im Wedding isst so was?“, fragt Bösl.
Auch Katharina Mayer, 28 Jahre alt, kennt Humboldthain Nordwest gut. Sie lebt in der Schönwalder Straße und sitzt für die Linke in der Bezirksverordnetenversammlung Mitte. Bei einem Spaziergang am Vormittag der Mietendemo „Erst richtig deckeln, dann enteignen“ ärgert sie sich darüber, dass der Wedding vom Time-Out-Magazin zum viertcoolsten Kiez der Welt gekürt wurde. „Das bringt dem Kiez gar nichts“, sagt sie, „hier sind die Leute richtig arm.“
„Steigende Mieten und Start-up-Gelder haben das Gesicht der deutschen Hauptstadt verändert, aber im Wedding sterben alte Traditionen langsam. Spottbillig und immer noch sexy, das unterbewertetste Viertel steht für den außergewöhnlichen Charme, für den Berlin einst bekannt war, und der an Orten wie Neukölln oder Kreuzberg immer schwerer zu finden ist.“ („Die 50 coolsten Nachbarschaften der Welt“. Platz 4: Berlin-Wedding. Time-Out-Magazin 9/19)
Mayer nennt Orte, die den Wandel vorantreiben, aber für die Bewohner nicht zugänglich seien, „Ufos“: Gerichtshöfe, Panke Culture oder das hippe Café am Nettelbeckplatz. Die „Pioniere“, die in die Ufos gingen, kämen aus Mitte und aus Prenzlauer Berg – fast so, als würde der Wedding zwischen diesen zerrieben.
Neben des „Ufos“ gibt es auch Orte, die den Wandel potenziell vorantreiben könnten, auch wenn sie eigentlich das Gegenteil bezwecken: das Baumhaus, ein Projektraum für „sozial-ökologischen Wandel“ – ein Beispiel für die Dialektik der Gentrifizierung.
Und immerhin gibt es in der Gerichtstraße auch Entwicklungen gegen den Trend. Mayer führt auch dorthin. Sie möchte nicht nur über ihren Kiez meckern, sondern auch Alternativen zeigen: Gleich neben den überteuerten Studentenappartements baut die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gesobau bezahlbare Wohnungen. Auch in der Lynarstraße, auf der anderen Seite des Weddinger S-Bahnhofs, stehen bezahlbare Neubauten der Genossenschaft „Am Ostseeplatz“.
Vorkaufsrecht reicht nicht
Das kommunale Vorkaufsrecht, das Bezirken im Milieuschutzgebiet zusteht, sei eigentlich ein gutes Mittel gegen die Verdrängung, sagt sie. Aber zum einen brauche es dafür radikale Baustadträte. Andererseits kritisiert Mayer, dass dieses Mittel „zu viele Lücken, zu viele Ausnahmen“ kenne. Ein Haus hat der Bezirk im Humboldthain Nordwest bisher über das Vorkaufsrecht gekauft, bei zwei Abwendungsvereinbarungen zur Eindämmung von Mieterhöhungen mit den Käufern geschlossen. In vielen Fällen lehnen die landeseigenen Wohnungsunternehmen den Kauf angesichts der Spekulationspreise ab.
„Ihre Traumwohnung mit super Anbindung. Hochwertiger Laminatboden. Stylisches Wannenbad mit Tageslicht. Moderne Küchenzeile. Sonniger Balkon.“ (2-Zimmer-Wohnung Reinickendorfer Straße: 50 qm, 1.079 Euro warm, Angebot auf Immoscout)
Youssef Rabbaoui, Jahrgang 1954, hat die Schnauze voll, schon seit 20 Jahren. Damals hatte der Eigentümer des Hauses gewechselt, in dem er mit seinen beiden Kindern wohnt. Während sich der alte Eigentümer zumindest noch Mühe gegeben habe, lasse der gegenwärtige Eigentümer Alexander Skora, der einst in der Neuköllner Weserstraße ein nicht genehmigtes Hostel betrieb, das Haus einfach verfallen. „Das ist ein Verbrechen“, sagt Rabbaoui. Skora ließ eine taz-Anfrage bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Rabbaouis Wohnung ist seit Jahren renovierungsbedürftig: Feuchtigkeit, die aus dem Keller in die Wohnung im Erdgeschoss steigt, Schimmel an den Heizungsrohren im Bad, Löcher in der Decke und im Boden. Rabbaoui trägt im Wohnzimmer Gummihausschuhe. Weil es so feucht und kalt in der Wohnung sei, könnten seine Kinder und er nicht auf Schuhe verzichten.
Störende Altmieter
Ein paarmal sei der Vermieter gekommen, das letzte Mal vor zwei Wochen, erzählt Rabbaoui. Doch er zeige keine Einsicht. Im Wohnzimmer des studierten Soziologen steht ein großes Bücherregal. Rabbaoui sagt, er habe sehr unter der Wohnung gelitten – und dass er schon längst auch hätte wegziehen können. Vermutlich möchte der Vermieter genau das. Denn die Hochstraße liegt zentral, der Humboldthain-Park auf der anderen Seite der Bahnschienen ist nur einen Steinwurf entfernt. Würde man die Wohnung sanieren, wäre es ein leichtes, Mieter zu finden, die bereit wären, viel mehr zu zahlen.
Rabbaoui zahlt nach diversen Mieterhöhungen immer noch knapp 600 Euro bruttokalt für 103 Quadratmeter. Er hängt an der Wohnung und ist bereit, um sie zu kämpfen. Deshalb hat er seinen Vermieter nun nach jahrelangem Streit verklagt. Eine neue Wohnung im Kiez könne er nur mit einem entsprechend hohen Gehalt finden. Das hat er aber nicht, er bezieht Sozialhilfe. Trotz des miserablen Zustands seiner Wohnung sagt er: „Ich wünsche mir, dass ich hier bleiben kann.“
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