piwik no script img

Micha Brumliks Aufruf zum Protest 1992Laßt uns mit Anstand von der Bühne der Geschichte gehen

Kommentar von

Micha Brumlik

Ein Aufruf an die bundesdeutschen Intellektuellen zum gemeinsamen Protest. Gegen die im Herbst 1992 von der SPD mitgetragene Abschaffung des Asylrechts.

300.000 für den Frieden: die Demonstration 1982 im Bonner Hofgarten Foto: Guenay Ulutuncok/akg-images

D ieser Text erschien erstmals am 8.9.1992 in der taz. Wir haben ihn aus Anlass des Todes von Micha Brumlik erneut publiziert.

Die Geschichte der bundesdeutschen Intellektuellen kann bald geschrieben werden, denn sie ist beinahe vorbei. Sie zeigt sich im Rückblick als dialektischer Prozeß, der durch Niederlagen gekennzeichnet war, die denn doch irgendwie zum Erfolg führten.

Micha Brumlik und die taz

Micha Brumlik war Erziehungswissenschaftler, Publizist und seit 1987 auch pointierter taz-Autor. Zehn Jahre lang war er auch fester Kolumnist der taz-Kultur. Er war Professor für Theorien der Bildung und Erziehung in Frankfurt/Main und dort von 2000 bis 2005 auch Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust. Am 10. November 2025 ist er wenige Tage nach seinem 78. Geburtstag gestorben. Einen Nachruf findet sie hier. Aus Anlass seines Todes präsentieren wir unter taz.de/MichaBrumlik folgende Auswahl seiner Texte.

Der russische Faschist Alexander Dugin: Der Philosoph hinter Putin (2022) Brumliks viel gelesener Text über den russischen Fasschismus

Kolumne Gott und die Welt: Frühling, Zeit für Adorno (2017) Eine von Brumliks regelmäßig für die taz-Kultur-Seiten geschriebene Kolumne, hier über Adorno und den Frühling.

Kolumne Gott und die Welt: Was nach dem Scheitern (2015) Eine weitere Kolumne von Brumlik darüber, wie jüdisch '68 und der Pariser Mai waren. Das ist auch seine eigene Prägung und Geschichte.

Asylrechtsdebatte und der Anschlag in Mölln: Schreibtischtäter (1992) Politiker aller Parteien, die die Asyldebatte führten und führen, sind für die drei Toten von Mölln mitverantwortlich, so wie die Bild verantworlich für den Tod von Rudi Dutschke war, schrieb Brumlik in diesem wütenden Kommentar nach dem rassistischen Brandanschlag mit 6 Toten.

Asylrechtsdebatte 1992: Laßt uns mit Anstand von der Bühne deutscher Nachkriegsgeschichte gehen (1992) Ein wütender Gastkommentar in der Asylrechtsdebatte 1992, in dem er die zerstrittetenen bundesdeutschen Intelektuellen zum gemeinsamen Protest ruft.

Fassbenders „Der Müll, die Stadt und der Tod“: Krankfurt–Ballade in Manhattan (1987) In seinem allerersten Text für die taz schrieb Brumlik über das gerade in New York uraufgeführte Theathestrück des Regisseurs Fassbender.

Auf die verlorene Antinotstandskampagne folgte die in ihren kulturrevolutionären Aspekten siegreiche Studentenbewegung, auf die verlorene Antinachrüstungskampagne der Genscherismus und mit ihm das Ende des Kalten Krieges. Mit seinem Ende zerfielen die Gewißheiten ebenso wie die Solidaritäten: Golfkrieg und Bosnien entzweiten uns – in vielen Hinsichten wohl unwiderruflich.

Wir werden Zeugen eines unter dem Druck der faschistischen Straße angestoßenen Entscheidungsprozesses in der SPD, deren Vorsitzender entschlossen das Erbe des antinationalsozialistischen Widerstandes, das universalistische Unterpfand der alten Bundesrepublik, den Asylparagraphen 16 des Grundgesetzes, durch Ergänzung abschaffen will.

In diesen Konflikten, die weder der Bösartigkeit der Protagonisten noch der Dummheit der Streitenden geschuldet sind, kommt das zum Ausdruck, was der Philosoph John Rawls „the burdens of reason“ nennt: die Ambivalenz von Vernunft und Moral angesichts einer objektiv vieldeutigen Wirklichkeit. Aber nicht alles ist so vieldeutig wie die Lage am Golf und in Bosnien.

In diesen Wochen und Monaten werden wir Zeugen eines unter dem Druck der faschistischen Straße angestoßenen Entscheidungsprozesses in der SPD, deren Vorsitzender entschlossen das Erbe des antinationalsozialistischen Widerstandes, das universalistische Unterpfand der alten Bundesrepublik, den Asylparagraphen 16 des Grundgesetzes, durch Ergänzung abschaffen will.

Im vollen Bewußtsein, daß dies an den realen Problemen nichts ändern wird, plant ein Teil der SPD den Rückmarsch ins nationalstaatlich bornierte Vaterland. In dieser Situation sollte uns, den bundesdeutschen Intellektuellen, bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten, etwa zwischen Bellizisten und Pazifisten, zwischen bedächtigen, strikt antinationalistischen Beobachtern des bosnischen Krieges und menschenrechtsorientierten Interventionisten, an einem geistigen Waffenstillstand gelegen sein.

Wir sollten die Gelegenheit nicht verpassen, uns mit Anstand von der Bühne der deutschen Nachkriegsgeschichte zu verabschieden. Wie? Hier mein konkreter, wirklich ernstgemeinter Vorschlag: Damals, in Bonn, als es wider die Nachrüstung ging, waren wir 300.000, die im Hofgarten protestierten und demonstrierten. So viele werden sich kaum für die Fernen und Fremden, die Asylbewerber, einsetzen.

Aber vielleicht werden es doch 50.000 sein. Und alle wären sie – wären wir— ein letztes Mal dabei: von Walter Jens zu Henryk Broder, von Günther Grass zu Martin Walser, von Lothar Baier zu Dunja Melcic, von Jürgen Habermas zu Cora Stephan, vom Komitee für Grundrechte und Demokratie zur Gesellschaft für bedrohte Völker, von Pax Christi zu den Ökolibertären.

Wann und wo? Um elf Uhr an jenem Tag vor jener Halle, an dem der geplante Sonderparteitag der SPD den Marsch in eine andere Republik, ins deutsche Vaterland, beraten wird. Und vielleicht, wer weiß, haben wir dieses – ein letztes – Mal Erfolg. Der hessische SPD-Parteitag ermutigt dazu.

Am Tag darauf werden wir dann das Kriegsbeil, also PC, Schreibmaschine und Füllfeder wieder auspacken und uns nach Herzenslust und – wie bisher – ohne jedes Risiko zur Freude des lesenden Publikums bekämpfen. Aber vielleicht – hoffentlich – in dem Wissen, unsere eigenste Obliegenheit, den Schutz der Republik, nicht vernachlässigt zu haben.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare