Metaphern im Aids-Diskurs: "Bedeutungen wuchern"
Leben Risikogruppen nur gefährlich oder sind sie es? Die Autorin Brigitte Weingart über Aids als Bedeutungsepidemie und Metaphern, die gebraucht werden, um Krankheiten zu bewältigen
taz: Frau Weingart, was ist eigentlich ein Zungenpräser?
Brigitte Weingart: Den Begriff Zungenpräser habe ich mir von Hubert Fichte ausgeliehen, der damit wiederum seine Lebensgefährtin zitiert, die Fotografin Leonore Mau. Die hat bei den ersten Aidsschlagzeilen über Rock Hudson, auch über Marlon Brando wurde ja spekuliert, von "Zungenpräser" gesprochen. Dieser ebenso prägnante wie mysteriöse Begriff fasst gut zusammen, dass man es bei Aids auch mit einer Sprachepidemie zu tun hat. Zungenpräser ist das Bild dafür, dass man, wenn man von den Ansteckungsgefahren der Sprache ausgeht, auch gut daran tut, auf seine Wortwahl zu achten.
In mehreren Büchern beschäftigt sich Brigitte Weingart mit der Kollektivsymbolik der Ansteckung. Ihre viel beachtete Arbeit über die Repräsentationen von Aids trägt den Titel "Ansteckende Wörter" (Suhrkamp Verlag). Mit Ruth Mayer gab die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin den Band "Virus - Mutationen einer Metapher" heraus. Nach ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn ist Brigitte Weingart, Jahrgang 1971, seit September 2007 Visiting Scholar an der Columbia University in New York.
Sie sprechen im Zusammenhang mit Aids von einer "Bedeutungsepidemie". Was ist das?
Ich habe das Wort Bedeutungsepidemie gewählt, weil sich bei Aids deutlich zeigt, wie eng das Sprechen über die Krankheit verknüpft ist mit der Realität der Krankheit. Wir neigen ja dazu, Sprache als etwas Zweitrangiges aufzufassen. Beim Thema Aids kann man aber sehen, wie dieser Begriff eine Wucherung von Bedeutungen, Interpretationen, Schuldzuweisungen und Erklärungsversuchen hervorgerufen hat. Das wiederum hat konkrete Auswirkungen auf die Realität der Krankheit.
Ein Beispiel?
Der Begriff "Risikogruppe" kommt mit dem Anschein der Neutralität daher. Bei genauerem Hinsehen ist aber nicht klar: Sind Risikogruppen eigentlich diejenigen Menschen, die einem bestimmten Risiko ausgesetzt sind oder sind mit Risikogruppen nicht eigentlich "Gefahrengruppen" gemeint? Also Gruppen, von denen eine Bedrohung ausgeht? So wie der Begriff in den Achtzigerjahren für Homosexuelle, Benutzer intravenöser Drogen oder Einwanderer aus bestimmten Ländern verwendet wurde, musste man den Eindruck bekommen, dass man es hier eher mit Gefahrengruppen zu tun hat. Die wurden mit dem Begriff Risikogruppe, der ja bis heute noch benutzt wird, etwas eleganter beschrieben.
Gibt es ein unpolitisches Sprechen über Aids?
Nein, aber es gibt inzwischen ein vorsichtigeres Sprechen über Aids. Dazu hat das Aufkommen von Political Correctness seinen Beitrag geleistet. Im Namen von PC sind ja nicht nur Hysteriker am Werk, die uns vorschreiben wollen, wie wir unsere Sprache zu benutzen haben. Wenn man sieht, wie Aids in den Achtzigerjahren verhandelt wurde, dann hätte man sich gewünscht, dass es ein größeres Bewusstsein über die politische Tragweite dieses Sprechens gibt. Ein Autor wie Hubert Fichte, der sich die Mühe gemacht hat, die Schlagzeilen über Aids mitzuschreiben, hat das politische Potenzial klar herausgearbeitet. Da reichen dann oft schon die Zitate, um klarzumachen: Hier wird nicht über ein medizinisches Phänomen gesprochen, hier stehen manifeste gesellschaftliche Spannungen zur Debatte.
Wie verrät sich Sprache, wie verrät Sprache ihre Benutzer?
Im Falle von Aids habe ich unterschwellige Komplizenschaften mit historischen Mustern gefunden, also phobische Konstruktionen, die sich hinter einem Beamtendeutsch verstecken. Wenn etwa vom "Sistieren" bestimmter "Verhaltensmodi" (wie dem Austausch von Spritzbestecken oder passivem Analverkehr) die Rede ist, dann ist das Polizeisprache. Der andere verräterische Ort der Sprache ist das metaphorische Sprechen. Ich möchte auf keinen Fall die Vorstellung verteidigen, es gäbe ein Sprechen jenseits von Metaphern. Wir brauchen Metaphern, um uns über komplizierte Dinge wie Infektion oder medizinisches Wissen zu verständigen. Aber das Reden in Kampf-Metaphern im Aids-Diskurs ist auch immer Ausdruck von einer Wahrnehmung des Körpers als Schlachtfeld. Körpergrenzen erscheinen als bedrohte Grenzen, die gerade an den Öffnungen von Invasionsgefahren heimgesucht werden.
Sie nehmen Bezug auf Susan Sontags Thesen über die Metaphern von Krebs und Aids. Wo liegen die Parallelen, wo die Unterschiede?
Susan Sontag hat ja für das Feld "Krankheit als Metapher" Fundamentales geleistet. Auch anlässlich ihrer eigenen Krebserkrankung hat sie beschrieben, wie sehr die Vorstellungen, die mit bestimmten Krankheitsbildern verknüpft sind, auf das Erleben der Krankheit zurückwirken. An Krebs ist die populäre Mythologie gekoppelt, dass es eine Krankheit ist, die man sich im Unterschied zu Aids nicht zuzieht, sondern die von innen kommt. Also nicht ausgelebte Aggressionen, die sich dann materialisieren, der Körper, der verdrängte Energien gegen sich selbst richtet. Der Unterschied zwischen Krebs und Aids ist vor allem, dass sich Krebs besser zur Psychologisierung eignet. Mit diesen Bildern gesprochen ist Aids eine Krankheit, die man sich "holt", Krebs dagegen erwächst aus einer psychischen Disposition.
Zugespitzt formuliert: Es gibt einen Krebstyp, aber keinen Aidstyp.
Besser: Der Krebstyp ist ein psychologischer Typ, der Aidstyp ist ein sozialer. Der Aidstyp der Achtziger war ein Vertreter der sogenannten Risikogruppen, der Schwule, der sich durch zu viel oder durch falschen Sex dem Ansteckungsrisiko aussetzt, der Drogenbenutzer, der die Reinheitsgebote nicht befolgt, oder die Prostituierte, da kommt die Promiskuität ins Spiel.
Bei aller Kritik an Sontag: War "Krankheit als Metapher" nicht eine Befreiung? Hat das Buch nicht wertvolle Argumente geliefert, gegen Zuschreibungen wie "Krebspersönlichkeit"? Dass man die "Schuld" am Krebs bei sich selbst sucht: Bin ich ein Krebstyp?
Sontags Buch war ein absoluter Augenöffner. Wie sie dieser Selbstbezichtigungslogik, die mit Krebs einhergeht, den Wind aus den Segeln nimmt, das ist ein Befreiungsschlag. Der symbolischen Aufladung von Krankheit im Fall von Krebs entgegenzuarbeiten, damit bin ich völlig einverstanden. Das gilt auch für die Metaphern von Aids. Allerdings ist mir ihre Position im Blick auf die Vermeidbarkeit metaphorischen Sprechens zu radikal. Sontag wendet sich gegen jede Form der Metaphorisierung von Krankheit, weil damit immer die symbolische Aufladung verbunden ist. Da scheint sie mir aber einer Fiktion des "reinen" Sprechens aufzusitzen.
Denn gerade die medizinische Realität ist von ihrer sprachlichen Darstellung nicht zu trennen. Es bedarf der bildlichen Vermittlung, um eine Krankheit zu bewältigen. Es ist eine Fiktion, dass wir in Situationen, wo wir mit der Grenze des Sagbaren konfrontiert sind, ohne sprachliche Bilder auskommen könnten. Insofern ist Susan Sontag wieder naiv, wenn sie im selben Satz davon spricht, dass man das metaphorische Sprechen über Krankheiten loswerden muss, aber es sei "nicht auszurotten". Was natürlich seinerseits eine Metapher ist.
Ist die Selbstbezichtigung von Krebskranken eine geschlechtsspezifische Angelegenheit, sind Frauen dafür "anfälliger"?
Spontan würde ich das bejahen, aber das müsste man genauer erforschen.
Hat Aids dazu beigetragen, dass die Akzeptanz von Homosexualität zurückgegangen ist?
Ich würde das Gegenteil behaupten. Zunächst hat das Aufkommen von Aids den Backlash ausgelöst. Nach den Befreiungsbewegungen der Sechziger und Siebziger hatte man plötzlich wieder mit manifester Homophobie zu tun. Dann allerdings ist eine Normalisierung von Homosexualität eingetreten. Die Bemühungen der Schwulenszene in der Verarbeitung von Aids, die Gründung der Aids-Hilfen, all das wurde gesellschaftlich gratifiziert. Plötzlich wurden Schwule präsenter im öffentlichen Leben, aber selbst das Negativ-Image durch Aids ist einer Normalisierung von Homosexualität gewichen. Das heißt aber nicht, dass sich das bei der nächsten Aids-analogen Krise nicht wieder negativ wenden könnte. In Krisenzeiten wird abweichende Sexualität für das Unheil der Welt verantwortlich gemacht.
Der Filmemacher Rosa von Praunheim hat in den Achtzigern Prominente wie Alfred Biolek oder Hape Kerkeling geoutet. Wie stehen Sie zum Fremdouting?
Grundsätzlich eher skeptisch, weil ich befürchte, dass Fremdouting dieselben Muster reproduziert, gegen die es angehen will. Es ist eine Denunziation vonseiten der Selbstgerechtigkeit des Ausgeschlossenen her. Auch wenn sie sich gegen die Selbstgerechtigkeit derer richtet, für die das Verschweigen ihrer Homosexualität bequemer ist. Allerdings erscheint es mir unter den Bedingungen der Aids-Krise nachvollziehbar, dass man es unerträglich findet, wenn ein Biolek oder ein Kerkeling in Zeiten der medialen Hetzjagd auf Schwule im Fernsehen sitzen und so tun, als seien sie es nicht. Dass einen das so provoziert, dass man wie Rosa von Praunheim das Fremdouting betreibt, das leuchtet mir völlig ein. Es hat ja auch was genützt.
Inwiefern?
Es hat der Normalisierung Vorschub geleistet. Wenn sogar Rock Hudson und Alfred Biolek - dann ja vielleicht auch der Typ von nebenan oder sogar ich selbst? Die Normalisierung wurde durch Outing begünstigt, trotzdem halte ich nichts von solchen Einmischungsaktionen.
INTERVIEW: KLAUS WALTER
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