: „Menschewiki“ und „Bolschewiki“ im Kampf vereint
■ Besuch der Yonsei–Universität in Seoul / Studenten, Gewerkschafter und Promis diskutierten am Wochende über die Vorschläge der südkoreanischen Regierung / Sieg der Demokratie oder nur „bürgerliche Revolution“?
Aus Seoul Nina Boschmann
Wären da nicht die geräumigen Wannen samt polizeilichem Zubehör an der nächstgelegenen U– Bahnstation, nichts würde die Besucherin auf dem Gelände der Seouler Yonsei–Universität an die Schlachten der letzten Wochen erinnern: Die optischen Spuren der hier täglich versprühten 20.000 Liter Reizgas sind ebenso wie andernorts im Zentrum der südkoreanischen Hauptstadt beseitigt, weder Scherben noch Steine oder gar irgendwelche Zerstörungen lassen auf die durchaus vorhandene Power der Gegenseite schließen. Stattdessen blickt man auf einen großzügig angelegten Campus amerikanischen Stils mit perfekt asphaltierten Straßen, gepflegten Rasenflächen und ebensolchen Student(inn)en: Männlein wie Weiblein in schicken Beinkleidern und hellem Baumwolloberteil, frisch gebügelt, frisch gewaschen, frisch gekämmt und nicht selten mit Tennischlägern und Sonnenschirm unterm Arm. Das Äußerste an Anarchie sind einige Blumentöpfe, die vor der Mensa zum Befestigen von Flugblättern zweckentfremdet wurden. Doch es sind keineswegs Streber, die hier flanieren, es ist die Creme de la creeme der engagierten Studentenschaft: Vor zwei Wochen hat die Regierung die Hochschulen vorzeitig schließen lassen, um der Protestbewegung einen Teil der Massenbasis zu entziehen. Nur wem es wirklich ernst ist mit der Gegnerschaft zum Regime, ist bis jetzt im stickig–heißen Seoul geblieben. Am Montag vergangener Woche hatte der designierte Präsidentschaftsnachfolger Roh Tae Woo überraschend sein Acht– Punkte–Programm zur Demokratisierung Südkoreas vorgeschlagen. Am vergangenen Freitag riefen die Asten von über 20 Hochschulen dazu auf, im geräumigen Amphitheater von Yonsei über die weiteren Perspektiven des Kampfes zu diskutieren. Schon am Eingang deutet sich an, daß darüber keineswegs Einigkeit herrscht. Im Marschschritt trampelt eine Gruppe von mehre ren hundert Studenten an uns vorbei und gibt mit erhobenen Fäusten unverständliche Schlachtrufe von sich. „Das sind die Bolschewiki“ erklärt mein (ebenfalls studentischer) Begleiter in gebrochenem Englisch. „Wie bitte?“ (Schließlich besteht ein Gutteil der Exotik der Südkoreaberichterstattung in Übersetzungsfehlern). „Na ja, die Mehrheitsfraktion, sie sind von der liberal–demokratischen Linie und rufen antiamerikanische Slogans.“ Mein Begleiter ist von den „Menschewiki“, der Minderheitsfraktion, die sich auch proletarische Linie nennt. Er arbeitet in einem „secret circle“, einem kleinen klandestinen Kreis, der sich von der Mehrheitsfraktion zwar nicht im Grundsätzlichen (Antifaschismus, Antiimperialismus), so doch in gewissen strategischen Fragen unterscheidet. Für beide spielt die Religion keine Rolle, so daß er mir über die dritte Fraktion, die christliche Studentenbewegung keine Auskünfte erteilen kann. Wenig später sitzen dann rund 30.000 Student(inn)en aller Fraktionen friedlich vereint und dichtgedrängt im Stadion und lauschen über drei Stunden lang in brütender Hitze konzentriert den Vorträgen vom pluralistisch besetzten Podium. Von Diskussion keine Spur. Das konfuzianisch–autoritäre Erziehungssystem Koreas ist - so scheint es - auch an den kritischen Kommiliton(inn)en nicht spurlos vorbeigegangen. Die Beiträge bieten offenbar einen halbwegs exakten Überblick über die derzeit verhandelten Positionen. Die Redner beschränken sich auf Grundsätzliches: So sind die Zugeständnisse der Regierung für den studentischen Vertreter der proletarischen Linie „ein kleiner Sieg auf dem weiten Weg, der noch vor uns liegt“, der Vertreter der Mehrheitslinie spricht immerhin schon von einem „Erfolg“, während der populäre bürgerliche Oppositionspolitiker Park Chang– Jong die Vorschläge Rohs als „größten Sieg der Demokratie seit den 60er Jahren“ rühmt: „Die Demokratie ist wie die Harmonie in einem Symphonieorchester; die herrschende Elite hat dieses Prinzip durchbrochen und wir müssen den Studenten danken, daß sie uns geholfen haben, sie wieder herzustellen.“ Das sehen die Vertreter der Minderheitslinie und erst recht die anwesenden Gewerkschafter ganz anders. So stellt der Redner der proletarischen Linie in öffentlicher Selbstkritik höchst betrübt fest: „Die Mittelklasse war die entscheidende Pressure group, wir Studentenführer waren darauf nicht vorbereitet und konnten unsere Kampfmethoden nur teilweise vermitteln. Jetzt müssen wir die Arbeiterbewegung stärker unterstützen, die Linien vereinen und den antiamerikanischen Kampf verstärken.“ Konkrete Hinweise auf die Begrenztheit der vorgeschlagenen Reformen kommen eindeutig von Gewerkschaftern und Vertretern der Slumbewohner von Sangye– Dong, einem jüngst plattgewaltzten Armenviertel. Sie weisen darauf hin, daß Demokratie auch etwas mit der Durchsetzung des Achtstundentages, mit liberalen Arbeitsgesetzen und ausreichenden Mindestlöhnen zu tun hat. Wenn schon eine Reform der Verfassung, dann nicht nur wegen des Wahlmodus für den Präsidenten, so der Tenor, sondern eine, die auch die sozialen Belange der Bevölkerung berücksichtigt. Zu diesen Demokratievorstellungen gehört auch, daß die Bauern höhere Preise für ihre Produkte erhalten, vertriebene Slumbewohner nicht mehr in Zelten vor der katholischen Kathedrale kampieren müssen, um Aufmerksamkeit für ihre Rechte zu wecken. Die Beiträge sind kämpferisch, die Reaktionen ritualisiert: Das Publikum hört zu, erhebt die Fäuste und singt zu schwermütiger Melodie ein revolutionäres Lied. Der nächste bitte. Eine Diskussion entsteht nicht, die Gewerkschafter treten den Studenten nicht auf die Füße, der bürgerliche Politiker, der nach dem Slumverteter spricht, erwähnt dessen Problem mit keinem Wort. Mein Begleiter, den ich auf die doch „etwas globale Ebene“ der Auseinandersetzung anspreche, sieht das wohl: „Wir trauen den Politikern nicht und wir waren am ersten Juli auch nicht sehr glücklich“, meint er. „Natürlich muß die proletarische Revolution zusammen mit der Bürgerlichen kommen, und was Roh vorschlägt, ist nur die Bürgerliche. Aber alle wünschen eine Zivilregierung und die liberale Demokratie hat in einem antikommunistischen Land wie dem unseren eine enorme Anziehungskraft.“ Notgedrungen, wie die Lektüre der zwei englischsprachigen Zeitungen am nächsten Tag ergibt. Dort heißt es, im Korea Herald geschickt plaziert über der Meldung von der Diskussion von Yonsei: „Wie Polizeichef Kwon Pok– Kyong gestern mitteilte, werden die Sicherheitskräfte weiterhin gegen alle linkslastigen und prokommunistischen Organisationen vorgehen. Wer grundlos Gerüchte in die Welt setzt oder verführerische Materialien drucken läßt, wird verhaftet.“ Was darunter zu verstehen ist, war dem Konkurrenzblatt Korea Times zu entnehmen. „Im Südwesten Seouls wurden 30 Studenten verhaftet, die radikale Slogans skandiert hatten, darunter zum Beispiel: „Für eine verfassunggebende Versammlung durch Revolution“. Derartige Forderungen, so erklärte die Polizei, widersprächen dem Geist der politischen Versöhnung durch Verhandlungen.“ Harte Zeiten für meinen Begleiter und seine Freunde.
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