: Melchor mit den gelben Flügeln
■ Melchor Mauri ließ sich auch auf der schwierigen 16. Etappe der Spanien-Rundfahrt die Führung nicht entreißen
Berlin (taz) — Eine ehrwürdige Weisheit des Radsports, so alt wie die Reifenpanne, besagt, daß das gelbe Trikot Flügel verleihe. Ein Phänomen, das sich jedes Jahr aufs Neue bestaunen läßt, und zwar keineswegs nur bei der Tour de France, sondern auch bei den anderen großen Rundfahrten, der Vuelta Ciclista a España und dem Giro d'Italia, wo das gelbe Trikot allerdings ziemlich rosa aussieht.
Kaum hatte im letzten Jahr der weithin unbekannte Italiener Marco Giovannetti bei der Spanien-Rundfahrt per Zufall, weil ihn die Konkurrenz nicht ernstnahm, einige Minuten Vorsprung herausgefahren, erwuchsen ihm plötzlich unvermutete Kräfte und er verteidigte die Spitze geradezu besessen gegen alle Anfechtungen, insbesondere von Seiten des trittfesten Spaniers Pedro Delgado, bis ins Ziel. Sein Landsmann Gianni Bugno stülpte sich beim Giro das Trikot des Führenden gleich am ersten Tag über und fuhr den Rivalen fürderhin nach Belieben davon.
Bei der diesjährigen Vuelta ist es der Spanier Melchor Mauri, der die Kontrahenten und nicht zuletzt auch sein eigenes Team, in basses Erstaunen versetzt.
Seit der ersten Etappe in gelb gewandet, behauptet Mauri, der bislang zwar als exzellenter Zeit-, aber um so schlechterer Bergfahrer galt, hartnäckig die Führung. Zugute kam ihm zwar, daß die Königsetappe der Rundfahrt von Andorra nach Pla de Beret wegen dichten Schneetreibens ausfallen mußte, aber bei allen anderen Klettereien hielt er sich sensationell gut. Im martialischen Zeitfahren zur Estación de Valdezcaray ließ er sich ebensowenig abschütteln, wie am Montag auf dem Weg von Santander zu den über 1.000 Meter hoch gelegenen Lagos de Covadonga in Asturien, eine besonders gefürchtete Etappe.
Als sich hinter dem einsam enteilten Kolumbianer Luis Herrera eine Verfolgergruppe mit den Topfavoriten Marino Lejarreta, Federico Etxabe und Miguel Induráin absetzte, konnte Mauri zwar nicht ganz mithalten, strampelte aber mit zusammengebissenen Zähnen hinterher und ließ seinen Rückstand nicht größer als eine halbe Minute werden. Als bejubelter Siebter kam er ins Ziel, verteidigte in der Gesamtwertung einen Vorsprung von 1:15 Minuten auf seinen Mannschaftskameraden Lejarreta und stürzte damit ONCE-Teamchef Manuel Sáiz in einen nicht geringen Zwiespalt.
„Die Chefs sind Fuerte und Lejarreta“, hatte dieser trotz aller Bemühungen Mauris stets beharrt, der katalanische Ex-Wasserträger sei zwar ein Fahrer, auf den er sich blind verlassen könne, aber er brauche noch einige Jahre, um „seine beste Form“ zu erreichen. Folgerichtig bekam Lejarreta, der unbestritten fleißigste Radfahrer der Welt, der auch in diesem Jahr Vuelta, Giro und Tour bestreiten will, grünes Licht für die 16. Etappe zu den Lagos de Covadonga. Erbarmungslos fuhr er seinem Kompagnon davon, doch es zeigte sich, daß Mauri mit der Beharrlichkeit einer Zecke an seinem gelben Trikot klebt. Nachdem Lejarreta seinen Rückstand nicht nennenswert verringern konnte, muß Boß Sáiz möglicherweise umdenken, zumal Zeitfahrspezialist Mauri beim Rennen gegen die Uhr morgen in Valladolid (55 Kilometer) weitere Sekunden gutmachen könnte.
Die endgültige Entscheidung wird in jedem Fall am Samstag auf der schweren 20. und vorletzten Etappe der Vuelta durch die Sierra de Guadarrama bei Madrid mit drei Bergen der ersten Kategorie fallen. Dort hatte im letzten Jahr Marco Giovannetti voller Inbrunst die letzten verzweifelten Angriffe Delgados abgewehrt. Melchor Mauri wird sich noch gut daran erinnern. Matti
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