Meinungsstreit über Antisemitismus: Bundeszentrale wird gerügt
Die Meinung eines ihrer Autoren zum Antisemitismus während der NS-Zeit passte der Bundeszentrale für politische Bildung nicht. Dafür gab es jetzt eine Rüge vom Bundesverfassungsgericht.
KARLSRUHE afp/epd | Im Meinungsstreit über den Antisemitismus der Deutschen während der NS-Zeit hat das Bundesverfassungsgericht die Bundeszentrale für politische Bildung zu mehr "Ausgewogenheit und rechtsstaatlicher Distanz" aufgerufen. Die scharfe Kritik der Behörde an einem ihrer Autoren, der behauptet, die Mehrheit der Deutsche sei damals nicht antisemitisch eingestellt gewesen, erklärten die Richter in einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss für verfassungswidrig. Die Behörde könne ihre Geschichtsinterpretation nicht als einzig richtige hinstellen, heißt es zur Begründung. (AZ: 1 BvR 2585/06)
Der Politologe Konrad Löw hatte 2004 den Aufsatz "Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte" in der Zeitschrift "Deutschland Archiv" verfasst, die ein privater Verlag im Auftrag der Bundeszentrale für Politische Bildung herausgibt. Darin vertritt Löw die These, dass die Mehrheit der Deutschen seinerzeit nicht antisemitisch eingestellt gewesen sei, sondern mit den verfolgten Juden sympathisiert habe. Der Autor nannte dies eine "deutsch-jüdische Symbiose unter dem Hakenkreuz". Nachdem ein Teil der Zeitschriften ausgeliefert war, entschuldigte sich die Bundeszentrale in einem Brief bei den Lesern, "welche sich durch den Beitrag verunglimpft fühlen", und kündigte an, den Rest der Auflage einzustampfen. Daraufhin zog Löw vor Gericht, seine Klage vor den Verwaltungsgerichten blieb aber in allen Instanzen erfolglos.
Die Verfassungshüter hob die vorhergehenden Entscheidungen nun auf und bezeichnete die Reaktion der Bundeszentrale als unzulässig. Die "herabsetzende Kritik" an Löw verletzte das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Autors und sei womit verfassungswidrig. Die Behörde dürfe sich zwar von extremen oder extremistischen Meinungen distanzieren, die ihr ansonsten zugerechnet würden. Mit dem abschätzigen Brief sei sie aber zu weit gegangen, weil der Aufsatz als nicht mehr diskutierbar dargestellt werde. Dies könne bei dem "sensiblen Thema des Antisemitismus eine erhebliche Stigmatisierung des Betroffenen mit sich bringen", entschied das Gericht. Auch könne die Behörde ihre eigenen Interpretationen der Geschichte nicht als die einzig richtigen hinstellen. Sie müsse als Anstalt des öffentlichen Rechts vielmehr die Aufgabe wahrnehmen, die Bürger mit solchen Informationen zu versorgen, die diese zur Mitwirkung an der demokratischen Willensbildung benötigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Kohleausstieg 2030 in Gefahr
Aus für neue Kraftwerkspläne
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe