: „Mein eigener Held sein“
■ Ein lahmes Bein schützt vor Laufen nicht: Jeannine Rathjen startet am Sonntag Vormittag beim Shell-Marathon
Das vorige Jahr lief für Jeannine Rathjen wunderbar. Trotz einer Lähmung des rechten Unterschenkels hat sie 41 mal bei einem Marathon das Ziel erreicht. „Mein erstes Jahr als Läuferin möchte ich beim Marathon am Sonntag mit insgesamt 42 Durchläufen abschließen.“
Weniger glorreich, erinnert sich die 32jährige, sei der Anfang ihres ohne Anleitung aufgenommenen Trainings im Dezember 1996 gewesen. „Einfach so“hatte sie ihre Turnschuhe geschnappt. Mit „lang raushängender Zunge und laut japsend“schaffte sie es gerade um den Häuserblock. Von da an wollte sie es wissen. Schnell waren ihre täglichen Trainingszeiten auf bis zu acht Stunden ausgeufert. „Ich habe meinen Körper völlig verausgabt“, gesteht die Hamburgerin, „und all seine Zeichen der Rebellion mißachtet.“Sie lernte, daß zu einem knallharten Training auch eine gute Betreuung gehört. Dr. Christoph Wenzel arbeitete mit ihr einen auf ihre Behinderung abgestimmten Trainingsplan aus. Vitamin-Spezialist Dr. Hasso Thalmann und HSV-Arzt Gerold Schwarz sorgen für ihre medizinische Versorgung. „Nur dieser Teambildung ist es zu verdanken, daß es nicht bei meinen ersten vier Rennen geblieben ist.“
Aber nicht alles in ihrem Leben lief so erfolgreich. Vor ihrer Sportkarriere sah sie sich als die „typische Verliererin“. Eine schwere Kindheit, mit 13 Jahren im Heim, ein Unfall mit 19 Jahren, bei dem sie sich ihr Handicap zuzog, und viele Jahre Depression zeugen von ihrer Lebensgeschichte. „Ich habe mich richtig in meinem Leid gesuhlt.“Als sie noch arbeitslos wurde, kam für sie der Punkt, sich doch endlich aufzuraffen. Sie wählte sich ihren Traumsport: das Laufen. Zufrieden sagt sie heute: „Laufen macht mich frei, denn beim Laufen löse ich viele Probleme.“Unwesentlich bei ihrer Kilometerfresserei sind die Plazierungen. „Einfach ins Ziel zu kommen und das Gefühl zu haben, sein eigener Held zu sein, sind Befriedigung genug.“
Ihre positiven Erfahrungen mit dem Laufen möchte Jeannine Rath-jen an andere weitergeben. Zu ihrem Bedauern stellte sie fest, daß sich nur wenige gehandicapte Menschen sportlich betätigen, entsprechend gering seien auch die Angebote der Vereine. Darum wünscht sie sich, daß mehr Menschen mit Behinderungen ihre Möglichkeiten wahrnehmen. „Dann bauen sich auch Vorurteile und Ignoranz im Umfeld ab“, glaubt Rathjen.
Gibt es denn noch ein Leben außerhalb des Laufens? „Mehr von Kafka lesen“, fällt der literaturbegeisterten Jeannine Rathjen ein. Außerdem würde sie auch gerne die Chicago Bulls gerne einmal live sehen. Und natürlich möchte sie noch so lange wie möglich laufen.
Denise Krampe
Shell-Marathon, Start Sonntag 9.00 Uhr, Karolinenstraße
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