Mehr Verkehr auf der Straße: Weniger S-Bahn heißt mehr Auto
Viele Fahrgäste kehren wegen des S-Bahn-Chaos dem öffentlichen Nahverkehr den Rücken - und steigen aufs Auto um. Für immer?
Zu normalen Zeiten befördert die S-Bahn rund 1,3 Millionen Fahrgäste pro Tag. Nach Schätzungen des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB) haben sich die Fahrgastzahlen jedoch seit den Zugausfällen um mehr als 75 Prozent verringert. Das bedeutet, dass inzwischen rund 900.000 Menschen auf anderen Wegen an ihr Ziel kommen. Aber wie?
Die Hälfte davon sei auf die Verkehrsmittel der BVG oder Regionalzüge der Deutschen Bahn umgestiegen, sagt der VBB. Die restlichen 400.000 bis 500.000 Fahrgäste kehrten zurzeit dem ÖPVN den Rücken zu. Heißt: Diese Menschen fahren Fahrrad, gehen zu Fuß oder benutzen das Auto.
Offenbar tun sie vor allem Letzteres: "Wir beobachten einen Zuwachs des Verkehrsaufkommens auf den Autobahnen und Straßen in Berlin", sagt Jens Pätsch von der Verkehrsmanagementzentrale (VMZ). Es träten zurzeit Staus auf Straßen auf, die vor dem Bahnchaos eher weniger befahren wurden. So beobachtete die VMZ zeitlich und von der Kilometerzahl längere Staus - zum Beispiel an der Kreuzung Seestraße/Osloerstraße im Wedding und auf dem Mariendorfer Damm in Tempelhof-Schöneberg. Wegen des dichteren Verkehrs kommt es auch zu mehr Unfällen - etwa auf dem Autobahnring A10.
Allerdings: Viele der rund 350.000 Pendler nach und aus Berlin fahren zurzeit früher oder später los, was die Staus wiederum zeitlich entzerrt. "Wir registrieren, dass viele Autofahrer entweder schon um 6.30 Uhr oder erst um 8 Uhr zum Büro starten", erklärt Pätsch. Konkrete Zahlen, wie viele Autos mehr unterwegs sind, könne er allerdings nicht nennen. Zu normalen Zeiten werden pro Tag rund drei Millionen Autofahrten auf Berliner Straßen und Autobahnen gezählt.
Trotz der logistischen Anpassungsfähigkeit der Berliner wird sich laut Verkehrsexperten die Verkehrslage sogar noch verschlechtern: Demnächst kehrten viele Arbeitnehmende aus dem Urlaub und Studierende aus ihren Semesterferien zurück. Dazu kommen noch mehrere Großbaustellen, die den Verkehr behindern, so auf den Autobahnen 100 und 111, der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain und der Kreuzung Bornholmer Straße/Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg. In den nächsten Wochen wird die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Verkehr eine Auswertung der Verkehrsdaten in Auftrag geben.
Der Hauptgrund einer Verschärfung der Verkehrsprobleme wird aber das zunehmend schlechtere Herbstwetter sein. Erfahrungsgemäß werden Busse und Bahnen dann mehr frequentiert, weil viele ihre Fahrräder in den Winterschlaf schicken. Wenn somit die öffentlichen Verkehrsmittel voller werden, nutzen wiederum andere Fahrgäste aus Komfortgründen mehr das Auto.
Der VBB befürchtet, dass diese Entwicklung langfristige Folgen haben kann: "Fahrgäste, die sich gegen den ÖPVN derzeit entscheiden, sind schwer wieder zurückzugewinnen", sagt Pressesprecherin Elke Krokowski. Die Grünen kritisieren derweil eine fehlende Perspektive, um zur Normalität im Nahverkehr zurückzukehren: "Es gibt bis heute keinen Stufenplan dafür", beklagt Claudia Hämmerling, verkehrspolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus. Mohamed Amjahid
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