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Mathematiker

Saxophonist Archie Shepp fährt Oktavsprünge in den Blues  ■ Von Andreas Schäfler

Ziemlich genau vor Jahresfrist beehrte uns Archie Shepp zuletzt – und blies mit einem Quartett-Konzert all jenen den Marsch, die dem Veteranen nicht mehr als die Absolvierung eines Pflichtprogramms zugetraut hatten. Jetzt will ers im Trio wissen und hat äu-ßerst gute Gründe dafür: zwei hervorragende Begleiter und das Repertoire seiner neuen Platte St. Louis Blues.

In einem Trio muss sich jeder exponieren können – was um so mehr gilt, wenn kein Klavier dabei ist. Shepp hat fantastische Pianisten in seinen Bands gehabt, und doch kann die St-Louis-Blues-Besetzung mit dem Bassisten Richard Davis und dem Schlagzeuger Sunny Murray als eine seiner besten überhaupt gelten. Ihrer Reputation – Davis als Lieblingsbassist von Igor Strawinsky, Murray als melodische Kapazität seiner Zunft – werden alle drei mehr als gerecht. Schon den Titelsong, ein altes W.C.Handy-Vehikel, interpretieren sie aus einer wagemutigen, sehr kontemporären Haltung heraus.

Seine anstehende Deutschland-Tour absolviert Shepp mit nicht minder eloquenten Begleitern: am Bass sein langjähriger Weggefährte und früherer Mingus-Eleve Andy McKee und am Schlagzeug Idris Muhammas – ein Hansdampf mit ganz eigener Handschrift, der seine Trommeln geduldig anrührt, flächig in die Breite spielt und unbeirrbar auf den richtigen Moment lauert, den großen Cymbal zischen zu lassen. Auch wenn die Trio-Chemie eine andere sein wird als mit Davis und Murray: Architektonisch hat Archie Shepp allerbeste Vorsorge getroffen, seine neuen Stücke, aber auch unvergängliche Schätze wie Billie Holidays God Bless The Child glanzvoll aufführen zu können.

Im Zentrum steht natürlich Archie Shepp selbst. Durch sein Tenorsaxofon findet einfach jede Gefühlsnuance ihre Verlautbarung: von der hingebungsvollen Klage bis zur energischen Katharsis. Und dass es auch einen gewieften Stoiker Shepp gibt, beweist er in Kenny Dorhams (eigentlich längst zu Tode gespieltem) Blue Bossa, der behutsam zu neuem Leben erweckt wird. Außerdem ist Shepp in der Lage, nach einem operativen Eingriff wieder zu abenteuerlichsten Oktavspagaten zu gelangen – und zu jenen wolkig hingetupften Statements, die den Blasebalg Ben Webster in Erinnerung rufen.

Es gab Phasen, da das Gelingen von Shepps Konzerten eine Frage seiner Laune war. Heute stachelt ihn durchaus der Ehrgeiz an, den neokonservativen Jungspunden in die Parade zu fahren. „Aus kultureller Sicht ist Amerika ein rückständiges Land.“ Und auch wenn dieses Shepp-Zitat schon älter ist – sein Postulat, dass „der Jazzmusiker wie ein Reporter, ein ästhetischer Journalist Amerikas“ zu agieren habe, bleibt unverändert gültig.

Der Traditionsbezug in Shepps Musik war auch in der wildesten Freejazz-Zeit nie zu überhören, aber er diente stets der glaubwürdigen Verankerung neuester Errungenschaften. Insofern hat Shepp auch den Weg für Leute wie Lester Bowie und David Murray geebnet. Für ihn selbst ist dieses Hochplateau der Möglichkeiten die einzig denkbare Operationsbasis. Er nutzt sie nach Belieben, um auch 1999 mehr als nur Zierrat abzuliefern. Wie beim letzten Stück der neuen Platte. Es dauert zwölf Minuten, heißt Archie Shepp und geht weit über ein gelungenes Selbstporträt hinaus. Indem es das verblichene Restlicht einer eher schattigen Epoche auf sich zieht, schimmert es wie eine Ikone mit Ewigkeitswert. Di, 24. August, 21 Uhr, Fabrik

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