: „Markante Situationen“
MOMENTAUFNAHMEN Autorin der taz.nord stellt ihr Buch vor, das „Hamburger Szenen“ versammelt
■ 36, Literaturwissenschaftlerin, Künstlerin, Übersetzerin und Lektorin, schreibt seit 2007 „Hamburger Szenen“ für die taz.
taz: Frau Sanger, wie muss eine Situation beschaffen sein, damit Sie eine „Szene“ darüber schreiben?
Rebecca Clare Sanger: Entweder muss mich etwas unglaublich ärgern: Ungerechtigkeiten mir oder anderen gegenüber im Alltag zum Beispiel. Oder es muss eine Situation sein, die markant ist, überraschend. Die etwas Prägnantes über die beteiligten Personen ausdrückt. Das muss aber nicht unbedingt repräsentativ sein, sondern kann auch als Momentaufnahme für sich stehen.
Zum Beispiel?
Ich habe mal einen Busfahrer erlebt, der aussah wie ein extrem unfreundlicher Ex-Junkie, der alle angrummelte und höchst unsympathisch war. Es stellte sich dann heraus, dass er 24 Katzen zu Hause hat, die er liebevoll hegt und pflegt und denen er all seine Oster-Schokolade schenkt. Das war nicht nur markant, sondern es zeigte auch, wie völlig falsch ich diesen Menschen eingeschätzt hatte.
Nutzen Sie ihre Szenen auch für Sozialkritik?
So direkt würde ich es nicht formulieren. Aber es gibt schon Situationen, in denen das mitschwingt. Einmal habe ich zum Beispiel über einen Baum in Planten un Blomen geschrieben, der direkt vor dem Untersuchungsgefängnis steht. Er wirkte wie ein Hort der Ruhe zwischen den Welten. Am Zaun ein paar Hundert Meter vom Gefängnis entfernt standen nämlich Menschen, die lautstark mit den Gefangenen kommunizieren, die aus den Fenstern riefen. Aber alle anderen im Park – Jogger, Leute auf den Bänken – ignorierten das total, als wären die anderen gar nicht da. Das war schon absurd.
Sind Sie manchmal in Versuchung durch Ihre Szenen „Rache“ für eine Alltags-Ungerechtigkeit zu üben?
Die Versuchung gibt es schon. Ich hoffe aber, dass es es nicht schnöde Rache ist, die mich motiviert, sondern dass es immer auch mit meiner eigenen Ohnmacht zu tun hat.
Und für wen schreiben Sie Ihre Szenen?
Bisher konnte ich mir schwer vorstellen, wer diese Szenen so liest und dass es überhaupt jemand tut. Durch die heutige Lesung wird sich das vielleicht ändern. Dann sehe ich vermutlich, dass es ganz normale Leute sind, die sich in den Situationen und Gefühlen wiederfinden, über die ich schreibe. INTERVIEW: PS
Präsentation von Rebecca Clare Sangers Buch „City Walking“, das etliche Hamburger Szenen enthält, die in der taz.nord erschienen sind: 19.30 Uhr, Kulturwerkstatt Harburg, Kanalplatz 6