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Marat lebt. Marat ist tot.

■ Frank Hoffmanns Frankfurter „Marat/ de Sade“-Inszenierung

Die Welt ist grau und kalt. Wände aus Beton, man kann sich den Schädel daran blutig schlagen. Ein paar Anstaltsbetten rechts, eiserne Drehhocker links. Zwei Reihen grauer Säulen, ein riesiger Bogen im Hintergrund, ein gekachelter Laufsteg, eine Leiter, die ins Nichts führt.

„Sie kommen“. Aus einer Türluke linkerhand fällt gleißendes Licht ins Dunkel. In diesem Licht naht Marat — dunkler Anzug, leicht gebeugt — und sucht seine Wanne. „Sie kommen“, sagt er, unsicher und bestimmt zugleich, angstvoll und selbstbewußt. „Paßt auf/ sie sind schon dabei/ ihr neues Reich aufzubauen“. Der Raum hallt wieder von undefinierbar schnarrenden Geräuschen: die Welt — ein Irrenhaus.

So beginnt Frank Hoffmanns Inszenierung von Peter Weiss' 1964 uraufgeführten „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt duch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“. Wenn Marat zwei Stunden später die Bühne verläßt, so wie er gekommen ist, dann tut er dies, nicht ohne Herrn de Sade mitleidig auf die Schulter zu klopfen und sich mit einem leise triumphierenden „Falsch, de Sade, falsch.“ zu verabschieden.

In Weiss' Versuchsanordnung werden die zwei historischen Persönlichkeiten, die sich so nie begegnet sind, wie im Labor einander gegenübergestellt: hier de Sade mit seinem individualistischen Angriff auf eine korrumpierte Gesellschaft, da der Vor-Marxist, der für eine soziale Umwälzung über Leichen gehen würde. Das Labor ist die Irrenanstalt zu Charenton (wo de Sade tatsächlich Insasse war), ein fiktives Welttheater als Spiel im Spiel, ein mehrfach gebrochenes Gegeneinander, das am Ende keine Lösung findet — weil es keine gibt. In Frankfurt schlägt das Pendel zuletzt jedoch in Richtung Marat aus; Frank Hoffmann wollte es so.

Marat (Giovanni Früh), gehetzt und krank, fiebernd und doch hellsichtig, ist eher ein stiller Revolutionär voll lauterster Absichten als ein blutrünstiger Revoluzzer. Aus seinem Wannen-Refugium betrachtet er das irre Treiben, um sich hin und wieder aufzurichten und um Gehör zu bitten; beinahe trotzig verteidigt er selbst dann noch die Vernunft, wenn keiner sie mehr hören mag.

Ganz anders de Sade (Thomas Thieme). Fett und feist und geil und gierig posaunt er hechelnd sein Credo — „Ich glaube nur an mich selbst.“ — in die Welt, und wenn er die spätere Mörderin Charlotte Corday befummelt, dann schlüpft er zugleich in die Rolle jenes Girondisten Duperret, dem Weiss diese Aufdringlichkeiten eigentlich zugedacht hatte — der Anarchist de Sade degeneriert zum Kleinbürger.

Während die Aufführung über weite Strecken sich in einem Zuviel an Bewegung, in einem Übermaß an gewolltem Irrsinn verliert, gewinnt sie ausgerechnet in jenen Szenen an Dichte, in denen sie reines Schau- Spiel ist: wenn im Bühnenbild Ben Willikens‘ die Figuren momentelang zum Tableau gefrieren, wenn das Schreien und Johlen für Sekunden panischer Stille weicht. Da mag man dann fast vergessen, daß dem ehemaligen Preister Jaques Roux für seine kraftlosen Beschwörungen der Revolution kaum Raum bleibt und daß der Girondist Duperret zur bunten Knallcharge verkommt. Sie alle werden Opfer einer Regie, die de Sade offenbar nur deshalb so kraftvoll auftreten läßt, damit das Ende um so überraschender kommt. De Sade umkreist Marat, zerrt ihn in seiner Wanne über die Bühne, bis dem schwindlig wird; aber nach dem Mord entsteigt Marat fast unbeeindruckt seinem Bade, legt in aller Seelenruhe den dunklen Zwirn wieder an und richtet sein „Falsch, de Sade, falsch“ — das bei Weiss ebensowenig am Ende steht wie das „Sie kommen“ am Anfang — an den schlafenden de Sade.

Das Herbeisehnen einer wie auch immer zu rettenden wahren Revolution, die auch noch schön und gut sein soll, der Traum vom friedlichen Umsturz — das nährt Hoffmanns Interpretation. Kurz vor dem 3. Oktober ist das auch ein Rekurs auf die Versuche des vergangenen Herbstes, im anderen Deutschland vom Sozialismus zu bewahren, was bewahrenswert schien: Marat lebt. Marat ist tot. Jörg Rheinländer

Peter Weiss: Marat/de Sade. Regie: Frank Hoffmann, mit Giovanni Früh, Thomas Thieme, Schauspiel Frankfurt im Bockenheimer Depot

Täglich, außer dienstags, um 19.30 Uhr.

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