: Mann tot, Fernseher aus
Gewalt im Kino VI: Warum die Stahlkralle von Freddy Krueger nur ein kurzer Adrenalinstoß ist, aber der Leichenschauhausfilm von Stan Brakhage etwas Heiliges ■ Von Christoph Schlingensief
Als ich vier oder fünf Jahre alt war, gab es im Fernsehen einen Boxkampf. Als der eine von den beiden k.o. ging, habe ich ausgeschaltet, bin zu meiner Mutter in die Küche gelaufen und habe gesagt: „Mann tot, Fernseher aus.“
Gewaltszenen bei Buster Keaton oder Dick und Doof standen dagegen bei meinem Vater und mir ganz hoch im Kurs. Wir waren sonntags immer pünktlich da, um zu sehen, daß da ein Haus umfällt und Keaton aber genau im Fenster stehen bleibt oder daß der Dicke im Schornstein hängt und ihm die Steine auf den Kopf fallen. Ich hatte damals schon einen kleinen Projektor mit einer 5-Volt-Batterie und einer Taschenlampe, in dem ich mir immer wieder den Normal-8-Film anschaute, wie der Dick durch den Kamin stürzt und unten aufschlägt, das habe ich allen vorwärts und rückwärts vorgeführt. Den Film habe ich sogar noch, in Oberhausen im Keller; der ist an genau dieser Stelle richtig verschmort, so oft habe ich sie gespielt.
Die Kontrolle, die ich gerne hätte
Daß jemand stürzt, und ich kann den wieder hochbauen, wieder fallen lassen und wieder hochbauen – darum geht es. Wie doof muß jemand sein, daß er diesen Trick nicht durchschaut?
In „Pulp Fiction“ kriegt Uma Thurman eine Riesenspritze ins Herz. Bei so was werde ich wahnsinnig. Da wird mir bewußt, daß da Kräfte sind, die die ganzen Zellen und Adern zusammenhalten. Wie in einem Computernetz sind sie untereinander verständigt, die Form zu wahren. Dann wird in einen Punkt etwas reingespritzt und man weiß: Gleich wird der ganze Organismus entweder tot sein, oder er wird gerettet und ist dann wieder ganz bei sich.
Wenn man mir erst bewußtmacht, daß mein Körper nur dieses neuronale Netz ist, und mir dann eine Störung vorführt, kriege ich natürlich Angst; die Kontrolle, die ich gerne hätte, wird mir entzogen.
Die Vierzehnjährigen, die ihren Dick oder ihren Doof kennen, wissen aber, daß er eine Person mit bestimmten Eigenschaften ist: der ist der mit den Mundwinkeln, der ist der mit dem Hut, der weint immer und so weiter. Nur der ist verwundbar, der nicht dazu steht, wer er ist.
In den „Nightmare on Elm Street“-Filmen mit Freddy Krueger oder in „Halloween“ gibt es ja nur diese konturlosen, schwachen Teenager. Je stärker eine Person ist, desto weniger kann das Monster sie kriegen.
Der Horror, den ich vielmehr verehre, ist der, mit dem auch meine Eltern noch etwas anfangen können: „Griff aus dem Dunkeln“, Filme von Karel Reisz, „Rosemaries Baby“ oder „Psycho“. Das sind Filme, die operieren mit einem Opfer, das selbst auch besessen ist, dessen Obsession die Bedrohung überhaupt erst hervorruft.
Die Stahlkralle reicht nicht weit
Es ist nicht nur der Täter, der besessen ist und sich ein kleines Schulmädchen sucht, wie im japanischen Porno, die durchmöbelt und dann die Reste im Wald vergräbt. Die stärkere und interessantere Form, auch die gefährlichere, ist die, durch die den Leuten ihre eigenen schwarzen Löcher bewußt werden, die Depression, in die sie stürzen könnten. Einer, der mit der Stahlkralle rumkratzt, reicht da überhaupt nicht dran; auch die Achtjährigen wissen schon, daß da nicht wirklich was ist. Das löst einen kurzen Adrenalinstoß aus, wie jemand, der beim Autofahren einzuschlafen droht, während er zentimeterweise näher an die Böschung ranfährt, dann anschrappt und sofort blitzwach ist, das Steuer korrigiert und wieder weiterfährt, bis zum nächsten Adrenalinstoß. Bei „Halloween“, „Freitag der 13.“, da geht's nur um die Wurst, wer kommt in die Wurst. Aber mit „Psycho“ zum Beispiel ist das eine völlig andere Situation. Da kommt die wahre Angst ins Spiel: Eine Frau, die Geld geklaut hat, auf der Flucht ist und dann in einem Hotel einen netten jungen Mann trifft, der keine Stahlkralle hat, keine Verrenkungen macht, gerne Tiere ausstopft, sich freundlich unterhält, und Mutter ist auch noch da! Und die junge Frau will das Geld ja zurückgeben! Wer solche Filme sieht und davon spricht, daß sie unsere Familien auseinanderreißen, der hat etwas auf den Kopf gestellt.
Aber was die Gefährlichkeit und die Nachahmungsgefahr angeht: Ich hatte schon von klein auf ein großes Interesse an Sex, habe aber nie was gemacht; bin statt dessen mit hochgestelltem Mantelkragen ins Pornokino gegangen. Ich konnte den Film dann leider nie wirklich erleben, geschweige denn anschließend danach handeln, weil ich in den fünfzehn Männern, die da außer mir noch saßen, immer meinen Griechischlehrer und meinen Religionsleher gesehen habe, Herr Waue und Herr Hillesheim. In derselben Zeit hatte ich „120 Tage von Sodom“ gesehen. Da bin ich nach zirka 45 Minuten rausgegangen – als die Teenager anfingen, die Scheiße mit den Nägeln drin zu essen –, zwar auf dem Weg zur Kasse noch entrüstet: „Daß so was in Oberhausen läuft!“, danach aber, auf dem Nachhauseweg, merkte ich, da war etwas dran, danach war etwas anders als vorher.
Man guckt etwas Heiliges an
So ähnlich ging es mir auch mit Stan Brakhages Leichenschauhausfilm „The Act of Seeing with One's Own Eyes“ (1971) – man guckt etwas Heiliges an. Es geht da nicht darum, noch mal mit dem Messer unter die Haut zu fahren oder hinter die Augen zu lugen, so forsch und kess, sondern durch die Unschärfe behält der sezierte Körper sein Geheimnis. Damit ist auch wieder mein eigenes Geheimnis berührt, was meine Zellen zusammenhält. Es mag esoterisch klingen, aber ich bin der Meinung, wenn man sich bei einem Unfall oder einem Gewaltangriff konzentriert, dann stirbt man auch nicht.
Die Scheiße in meinen Filmen ist für mich auch so etwas Heiliges: Als Achtzehnjähriger hatte ich einen Darmverschluß. Mein Bauch wurde immer dicker und dicker, schließlich brachten sie mich ins Krankenhaus. Tagelang bekam ich Abführmittel, saß ewig auf dem Klo, aber es passierte nichts. Dann kam ein Arzt rein, ein Stationsarzt, ich glaube, er war Türke, der die Zeit nutzen wollte, in denen der Chef nicht da ist, um mich zu operieren. Die Schwester war ganz aufgeregt, denn sie hatte mehr Erfahrung und wußte, daß es noch zu früh war: „Aber da kann man doch nicht operieren.“ Schließlich machte sie einen Schaukeleinlauf; man mußte halten, halten, halten und dann: Wommmmm! Ich sah nur noch, wie mein Bettnachbar sich die Decke über den Kopf zog, die Wände voll waren und die Schwester, die selbst voller Scheiße war, rief: „Das ist ja großartig!“ Ich erwarte nicht, daß alle meine Filme lieben, aber man muß wenigstens akzeptieren, daß diese Sachen mir heilig sind.
Ich mag deshalb Filme nicht, die ich „humanistisch“ nenne, wie die von Jarmusch, die immer schon wissen, wo es langgeht und wie die Welt sein müßte, die eine Ansicht verfilmen.
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