: Man muss es sich leisten können
Wohnen ist ein Muss, in der Stadt ist der Mietmarkt aber umkämpft. In seiner Serie „Raum und Zahl“ hat der Fotograf Florian Scheible dokumentiert, was Berlinerinnen und Berliner ihre Wohnung wert ist
Aus Berlin Uwe Rada (Text) und Florian Scheible (Fotos)
Ist da auch ein bisschen Trotz im Spiel? Eine Frau schaut aus dem Fenster ihrer Neuköllner Wohnung, die Lippen zusammengepresst, sie sitzt in der Ecke zwischen Heizung und einer Kommode. Die Fotografie von Florian Scheible zeigt nur diesen Ausschnitt, alles andere muss sich der Betrachter oder die Betrachterin dazudenken. Ist das die Küche? Gibt es einen Esstisch? Wo schläft sie?
Es braucht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie der Alltag von Lisa aus Neukölln aussieht. 20 Quadratmeter klein ist ihre Wohnung. Wie bewegt man sich auf engstem Raum, wie richtet man sich ein? Steckt hinter dem Blick aus dem Fenster die Sehnsucht nach Weite? Oder hat sich Lisa bwusst für eine Miniwohnung entschieden. Nur 20 Prozent ihres Einkommens zahlt sie für diese 20 Quadratmeter. Das unterscheidet sie von Há, die ebenfalls nur auf 21 Quadratmetern lebt, dafür aber 70 Prozent ihres Einkommens aufbringen muss.
Wohnen, das ist eine der Botschaften von Scheibles Fotoserie „Raum und Zahl“, ist zunächst etwas zutiefst Individuelles. Man richtet sich ein. Im Raum, der einem zur Verfügung steht, im Budget, das nicht überschritten werden darf. In den eigenen vier Wänden, auch wenn die dicht an dicht stehen.
Politisch wird das Wohnen erst, wenn deutlich wird, welchen Preis es hat. 25 Prozent ihres Einkommens zahlen Mieterinnen und Mieter im Schnitt in Deutschland. Wie aussagekräftig ist diese Zahl, wenn man erfährt, dass eine Familie mit zwei Kindern in Berlin-Mitte auf 60 Quadratmetern zusammenrückt – aber nur 18 Prozent ihres Einkommens für die Miete zahlt? Haben sie, als die Kinder kamen, nach einer größeren Wohnung gesucht und keine gefunden? Zumindest keine bezahlbare?
Florian Scheible lässt seine Protagonistinnen und Protagonisten nur über die Kamera sprechen. Die Geschichte hinter den Fotos bleibt unerzählt. Das Politische an den Fotografien entsteht im Blick des Betrachtenden. Und es ist bewusst uneindeutig. Keine Anklage, kein Elend, kein Zille.
Eher vermitteln die Fotos des in Berlin und Innsbruck lebenden Fotografen eine Frage: Wie viel Wohnen können wir uns leisten?
In Berlin, das wie kaum eine andere Stadt in Deutschland unter explodierenden Mieten leidet, hat die Politik darauf eine Antwort: Für Menschen mit wenig Einkommen gelten 6,50 Euro pro Quadratmeter Kaltmiete als „leistbar“.
Darüber hinaus haben der Senat und seine landeseigenen Wohnungsunternehmen ein „Leistbarkeitsversprechen“ formuliert. Übersteigt die Nettokaltmiete 27 Prozent des Haushaltseinkommens, kann ein Antrag auf Mietreduzierung gestellt werden.
Was aber ist mit Menschen, die nicht in einer landeseigenen Wohnung leben? Was sagt die Politik Karen aus Friedrichshain, die für ihre 66 Quadratmeter große Wohnung 46 Prozent ihres Einkommen zahlt? Dass sie in eine kleinere Wohnung soll?
„Raum und Zahl“ setzt etwas zueinander ins Verhältnis, ohne dass die Reihe Antworten geben kann. Die Frage aber steht im Raum: Was ist mit denen, die sich das Grundrecht Wohnen nicht mehr leisten können? Und wie radikal müssen die Antworten auf diese Frage ausfallen?
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen