INTERVIEW: »Man muß die Fragen so formulieren, daß man eine Antwort erhält«
■ Interview über die Glaubwürdigkeit von Kindesaussagen vor Gericht bei sexuellem Mißbrauch/ Zahl der Falschaussagen unter zehn Prozent
Dr. Renate Volbert, 34, arbeitet als Psychologin am Institut für Forensische Psychiatrie der Freien Universität Berlin. Seit sieben Jahren erstellt sie Glaubwürdigkeitsgutachten in Fällen sexuellen Mißbrauchs an Kindern und Jugendlichen.
taz: Wie glaubwürdig sind Kinder Ihrer Erfahrung nach, wenn sie über einen sexuellen Mißbrauch berichten?
Volbert: Ich möchte erst zum Begriff »glaubwürdig« etwas sagen. Es geht ja um die Aussage und nicht um die Person, deshalb sprechen wir von Glaubhaftigkeit einer Aussage. Zu meinen Erfahrungen — die sind natürlich nicht repräsentativ —, aber wir gehen davon aus, daß der Prozentsatz der Falschaussagen bei weniger als zehn Prozent liegt. Das kann sich ändern, je nachdem was über sexuellen Mißbrauch noch bekannt wird.
In welchen Fällen kommt es denn zu falschen Aussagen?
Besonders vorsichtig muß man als Gutachter sein, wenn es im Hintergrund Scheidungsauseinandersetzungen gibt, insbesondere um Sorge- und Besuchsrecht.
Wie ist aus psychologischer Sicht der Vorwurf zu sehen, Kinder seien mit suggestiv gestellten Fragen leicht zu falschen Antworten zu bewegen?
Es gibt da eine neue amerikanische Studie, die aber teilweise falsch dargestellt wird. Die Untersuchung von Goodman und Clarke-Stewart besagt nämlich nicht, daß kleine Kinder im allgemeinen besonders suggestibel sind, für manche Dinge sind durchaus Erwachsene suggestibler. Wahr ist, daß man mit seinen Interviewtechniken aufpassen muß.
Offene Fragen stellen, zum Beispiel...
Ja, allerdings ist das bei Kindern, die noch nicht in der Schule sind, eine Gratwanderung. Man muß die Fragen schon so formulieren, daß man eine Antwort erhält.
Biographie, soziales Umfeld und Tests gehören zum Standard von Gutachten. Welche speziellen Kriterien haben Sie für die Beurteilung der »Glaubhaftigkeit« einer Erzählung?
Wir werten diese Aussagen inhaltsanalytisch mit Hilfe von sogenannten »Realkennzeichen« aus. Da gilt bei kleinen Kindern die Schilderung von unverstandenen Handlungselementen als bedeutsam, wenn sie zum Beispiel die Ejakulation als Pipimachen beschreiben. Oder allgemeiner, wie detailliert, plastisch und anschaulich etwas geschildert wird, ob Interaktionen berichtet werden, ob es raum- zeitliche Verknüpfungen gibt, oder ob auch nebensächliche Handlungen geschildert und kleine Fehler zugegeben werden.
Die Begutachtungssituation ist eine von vielen Stationen, die ein Kind möglicherweise durchläuft, wenn es zur Anzeige gekommen ist. Manche halten dies für zusätzlich belastend.
Das kann ich so nicht bestätigen. Es gibt Nachbefragungen von im Kindes- oder Jugendalter untersuchten Erwachsenen. Deren Wertungen sind eher positiv.
Immer wieder kommt es dazu, daß Kinder vor Gericht nichts mehr sagen wollen. Das kann erheblichen Einfluß auf die Verurteilung des Täters haben, wenn die Aussage des Kindes einziges Beweismittel ist. Welche »vertrauensbildenden Maßnahmen« gibt es denn von seiten des Gerichts?
Es gibt laut Strafprozeßordnung gewisse Schutzvorschriften, die die Möglichkeit bieten, den Angeklagten und die Öffentlichkeit auszuschließen oder das Kind nur durch den vorsitzenden Richter befragen zu lassen. Das hängt aber auch sehr vom jeweiligen Richter ab. Außerdem sind meist Spielzimmer eingerichtet, in denen sich die Kinder bis zur Befragung aufhalten können.
Könnte auf die kindliche Zeugenaussage nicht ganz verzichtet werden, indem man beispielsweise die Stellung des Gutachtens aufwertet?
Das geht nicht, weil wir laut Strafprozeßrecht das Prinzip der Mündlichkeit haben, das heißt, es gilt primär das, was vor Gericht ausgesagt wird. Der Rückgriff auf frühere Vernehmungen reicht nicht aus. Auf die Aussage des Kindes verzichten kann man allerdings, wenn der Täter geständig ist. Interview: Sonja Striegl
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