: Man ist heute unverfrorener“
■ Alle feiern den 9. November als Tag des Mauerfalls. Der Historiker Johannes Heil vom Zentrum für Antisemitismusforschung warnt vor der Verdrängung der Reichspogromnacht
taz: Alle reden von 1989, keiner von 1938. Wird das Gedenken an die Reichspogromnacht vom Mauerfall erschlagen?
Johannes Heil: Zumindest kann man das zehn Jahre nach dem Mauerfall befürchten. In den letzten Jahren hat sich das Gedenken die Balance gehalten, beide Ereignisse waren in der Öffentlichkeit präsent. Dieses Jahr ist die Erinnerung an die Reichspogromnacht in den Windschatten geraten.
Geraten die Ereignisse von 1938 durch die Mauerfeierlichkeiten auch in den Köpfen der Leute in den Hintergrund?
Ich denke nicht, dass hier Geschichtspolitik gemacht wird und eine systematische Verdrängung stattfindet. Aber es besteht die Gefahr, dass die Pogromnacht in der öffentlichen Wahrnehmung untergeht. Hier muss man gegensteuern. Gedenken und Feiern müssen in Einklang gebracht werden. Am 9. November muss vor Ort daran erinnert werden, dass es noch eine andere Geschichte gibt als die des Mauerfalls.
Michel Friedman, Präsidiumsmitglied im Zentralrat der Juden, hat gesagt, ihm sei an diesem Tag nicht nach Feiern, sondern nach Trauern zumute. Am 9. November müsse sich das vereinte Deutschland an die Zerstörung der Zivilisiation erinnern.
Ich kann das sehr gut nachvollziehen, dass man sich beim Gedenken in einer Synagoge von einer Öffentlichkeit, die am Brandenburger Tor feiert, allein gelassen fühlt. In Israel gab es immer die Bedenken, dass der 9. November 1938 durch das Jahr 1989 verdrängt wird. Bisher konnten wir sagen: Nein, das findet nicht statt. Ich fürchte, dieses Jahr werden diese Befürchtungen genährt.
In letzter Zeit mehren sich Anschläge auf jüdische Friedhöfe. Entwickelt sich das Gedenken die Pogromnacht reziprok zu seiner Notwendigkeit?
Antisemitismus spielt heute eine größere Rolle, ob er stärker geworden ist, weiß ich nicht. Nach 1945 waren antisemitische Einstellungen empirisch betrachtet lange Jahre im Abnehmen begriffen. Jetzt werden sie wieder deutlicher artikuliert. Anonyme antisemitische Zuschriften werden in letzter Zeit zunehmend durch namentlich unterzeichnete Schreiben ersetzt. Man ist heute wieder unverfrorener und bekennt sich öffentlich zu antisemitischem Gedankengut.
Wo liegen die Gründe für die stärkere Artikulation?
Grundsätzlich besteht ein Zusammenhang zwischen der zeitlichen Entfernung der Ereignisse und dem Gefühl, sich äußern zu müssen. Geschichte ist in Deutschland immer noch etwas, das nicht einfach vergangen ist. Diejenigen, die sich von dieser Geschichte negativ provoziert fühlen, finden sich heute in einer Gesellschaft, die Tabubrüche gewohnt ist, und artikulieren ihre antisemitische Einstellung ganz direkt und teilweise sehr brutal.
Gibt es Veränderungen des öffentlichen Klimas, die diese Haltung begünstigen?
Zumindest sind Ereignisse wie die Paulskirchen-Rede von Martin Walser, vor allem aber ihre Rezeption ein Signal, dass die politische Korrektheit, die solche Auffassungen unter dem Tisch gehalten hat, nicht mehr da ist und dass die Leute sie offen artikulieren können. Eine Rede wie die von Walser konnte dafür durchaus als Einladung verstanden werden.
Diejenigen, die letztes Jahr in der Paulskirche applaudiert haben, stehen dieses Jahr am Brandenburger Tor.
Viele, die damals applaudiert haben, haben die Brisanz dieser Rede wohl gar nicht verstanden. Ich glaube auch nicht, dass heute jeder, der am Brandenburger Tor steht, die Brisanz dieses Ereignisses im Hinblick auf die Pogromnacht versteht. Es handelt sich nicht um eine aktive Verdrängung. Aber es existiert eine Ignoranz, die durchaus zu denken gibt.
Bis 1989 war der 9. November 1938 kein Datum, dass man so einfach ignorieren konnte.
Wenn man anfängt, die Daten gegeneinander auszuspielen, dann stehen sie sich auch tatsächlich entgegen. Der 9. November ist ja auch noch der Tag der Abdankung Wilhelms II. 1918 und des Hitler-Putsches 1923, der ein festes Datum im nationalsozialistischen Heiligenkalender darstellte. Der äußerst geschichtsträchtige 9. November muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Nicht, weil es ein vom Schicksal vorbestimmter Tag ist, sondern weil an diesem Datum Ereignisse aufeinanderprallen, die alle signifikant für deutsche Geschichte sind. Wenn man diese Höhen und Tiefen aufgreift, kann man durchaus etwas Produktives entwickeln.
Welche Bedeutung hat der 9. November 1938 für die Zukunft?
An diesem Tag hat sich entschieden, dass für Juden in Deutschland keine Zukunft mehr bestand. Es hat sich auch gezeigt, dass ein Teil der deutschen Bevölkerung vielleicht mit Scham danebenstand, aber keiner aufgestanden ist, um das zu verhindern. Es gibt ja das beliebte Argument, dass viele von Auschwitz nichts gewusst hätten. Dass an diesem Tag die Synagogen brannten, das hat jeder in ganz Deutschland gesehen. Das Vermächtnis der Reichspogromnacht von 1938 ist die Forderung nach Zivilcourage: Wir sehen viel zu oft weg.
Interview:
Andreas Spannbauer
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