: Man darf ruhig Unvernunft sagen
betr.: „SPD: Münteferings Rede. Das doppelte Opfer“, Kommentar von Stefan Reinecke, taz vom 22. 6. 04
Es ist genau so, wie Sie es beschreiben. Der an einem über den Individualismus hinausweisenden gesellschaftlichen Ganzen interessierte Bürger will den Ausgleich zwischen dem Eigeninteresse (einigermaßen geregelte Handlungs- und Planungshorizonte) und einer funktionsfähigen Gesellschaft (die divergierende Interessen ausgleicht und mittelfristig Sicherheit gewährleistet) gewahrt sehen. Wenn die Rechnung – wie momentan allzu offensichtlich – nicht aufgeht, dann wehrt er sich und teilt zu Recht Dresche aus. Mit den Mitteln des Wahlbürgers heißt dies: Wahlenthaltung, Opposition wählen usw.
Der von Ihnen angemahnte Sinn fehlt in der Regierungspolitik – wobei die Agenda 2010 nur ein Beispiel ist – allenthalben. Er wird sich in Anbetracht des historisch belegten sozialdemokratischen Masochismus und unter der aktuell ausgegebenen Parole („weiter so!“) auch nicht mehr einstellen. Bemüht man Kassandra, wird spätestens nach der verlorenen Landtagswahl in NRW 2005 Schluss damit sein. Verschwinden wird danach auch das bisher bekannte Personal. Aber was wächst nach? Nimmt man als dessen Prototyp bspw. den im Brennpunkt derselben Ausgabe (Seite 3) in vollster Unbedarftheit zu Wort gekommenen Herrn Kahrs, dann sieht es desaströs für die SPD aus. Dabei stimme ich mit dem übergangsweisen Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei in einer Hinsicht völlig überein: Die SPD wird als Volkspartei und zur Wahrung des politischen Gleichgewichts noch länger gebraucht. Aber sie interpretiert momentan ihre gesellschaftliche Aufgabe vollkommen falsch. Indem das herrschende Personal durch seine vermeintlich „eiserne“ Disziplin (man darf ruhig sagen Unvernunft) den Reformbegriff auf Jahre hin diskreditiert, werden die gesellschaftlichen Reformkräfte für viele Jahre geschwächt, weit über den Wählerkreis der SPD hinaus. Für ein Revirement, so fürchte ich, ist es bereits zu spät. Die angerichtete Suppe wird bis zur bitteren Neige ausgelöffelt werden. Zumal ein zweiter Wehner nicht in Sicht ist; jemand, der in diesmal korrekter Abwägung von Situation und historischer Aufgabe den entwurzelten Hannoveraner in die Wüste schickt.
HANS GÜNTER GREWER, Saarbrücken