: Magdeburger Frieden
■ VietnamesInnen schließen Vertrag mit deutschen Jugendlichen/ Skinheads nicht anwesend
Magdeburg (taz) — Seit Wochen jeden Abend das gleiche Bild: Jugendliche, ausgestattet mit Fahrradketten, Eisenstangen und reichlich Biervorräten, lungern an der Bushaltestelle vor dem Ausländerwohnheim herum, warten auf heimkommende VietnamesInnen. Für die sind die dreihundert Meter bis zur Haustür längst zum Spießrutenlauf geworden. Sicher konnten sie sich noch nicht einmal im Wohnheim fühlen, seit vor zwei Wochen ein Trupp Maskierter in das Haus eingedrungen war, Möbel zertrümmerte und BewohnerInnen angriff. Die Täter verschwanden unbehelligt.
Letzten Montag entschlossen sich die Belagerten mit dem Mut der Verzweiflung zu einem ungewöhnlichen Schritt: anstatt die Eingänge zu ihrem Wohnheim zu verbarrikadieren, öffneten sie im Beisein der Magdeburger Ausländerbeauftragten Verena Arenz die Türen und luden die Jugendlichen zum Kaffee und zur Besichtigung ihrer Unterkünfte ein. Gerade noch rechtzeitig, wie Arenz bemerkte, „denn die waren noch nicht angetrunken.“
Stattdessen reagierten die Sechzehn- bis Achtzehnjährigen ersteinmal „völlig verstört“ über das Angebot, ließen dann aber Bierflaschen, Fahrradketten und anderes Schlaggerät liegen. Beim Anblick der Wohnverhältnisse — fünf bis sechs Quadratmeter pro Person — verschlug es ihnen zum zeiten Mal die Sprache, waren sie doch vorher fest davon überzeugt, daß „die Fidschis in Saus und Braus“ leben. Derart in ihrem Weltbild erschüttert, ergaben sich schließlich Gespräche zwischen HeimbewohnerInnen und Jugendlichen, die sich die Ausländerbeauftragte nie hätte träumen lassen. Per Handschlag wurde ein Friedensvertrag besiegelt. „Seitdem“, sagt Verena Arenz erleichtert, „ist Ruhe dort.“
Skinheads hätten sich beim friedlichen Besuch im Wohnheim nicht eingefunden. „Das waren eben ganz normale Jugendliche“, sagt Arenz, die da aus einer Mischung von Frust, Langeweile und Perspektivlosigkeit auf die AusländerInnen losgegangen seien — in ihrer Ausländerfeindlichkeit auch bestärkt durch eine indifferente Polizei, die sich wegen „der paar Fidschis nicht heiß machen will“, wie ein Magdeburger Polizist kürzlich erklärte. Andrea Böhm
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