: Mädchen wollen Abenteuer
■ Wenn auch nicht gerade Bungeespringen;: ein Nachtspaziergang durch das Parzellengebiet ist auch aufregend
Wenn die Bremer Naturfreundejugend mit Jugendlichen auf Paddeltour geht, passiert immer wieder dasselbe: Die Jungs schnappen sich die sportlichen Einer und schießen voraus, die Mädels nehmen mit den Doppelbooten vorlieb. Nähert man sich schwierigen Passagen wie einer Schleuse, rufen die Mädchen von hinten: „Ich kann nicht mehr“. Mögen Mädchen keine Abenteuer?
Doch, sagt Lotte Rose, aber nur unter ganz bestimmten Bedingungen. Lotte Rose begleitet als Wissenschaftlerin das bundesweit einmalige Forschungsprojekt „Mädchen in Bewegung“ in Hessen. Diese Bedingungen stellen Mädchen: Jungs dürfen nicht dabei sein, die Betreuungspersonen müssen Frauen sein, sie wollen langsam an die Grenzerfahrungen herangeführt werden; vor allem müssen auch all die anderen Bedürfnisse der Mädchen ernstgenommen werden: die Mädchen wollen nämlich erstmal am Ufer picknicken, schwatzen, ins Wasser gucken, die Zehen reinhängen - um irgendwann doch ins Boot zu steigen. Sie tasten sich in einer Spiralbewegung ans Abenteuer ran.
Nun bietet die Naturfreundejugend reine Mädchenpaddeltouren an: Und plötzlich wagen sich auch die Mädchen in die Einer. Kommt eine schwierige Situation, gehen die Mädchen erstmal an Land, beobachten gemeinsam die Stromschnellen, bis sich eine vorwagt, andere ansteckt. Wer sich nicht traut, braucht sich dennoch nicht zu schämen, die anderen helfen dann beim Boottragen, erzählt Anja Stahmann von der Naturfreundejugend. Und anschließend genießen sie ihre Leistung, schaukeln im Boot, beobachten Fische - Jungs dagegen ziehen sofort weiter zum nächsten Kampf mit dem Wasser.
Die Erlebnispädagogik kommt aus der Reformpädagogik zu Anfang des Jahrhunderts. Unbeachtet blieb jedoch bis vor kurzem, daß sich die Erlebnispädagogik immer an Jungen orientierte und an ihren sozialisatorischen Mitbringseln: einer Risikofreude, die manchmal jedoch bis zur Selbstgefährdung geht, an Techniken der Angstunterdrückung.
Mädchen bringen ganz andere Erfahrungen mit: Früh wird ihnen vermittelt, daß die Welt ungemein gefährlich sei, sie werden geradezu von Risikoerfahrungen abgehalten. In der Folge bewegen sie sich in recht engen Räumen, hausnah. Die Kraft, Zähigkeit und auch Selbstheilungskraft ihres Körpers kennen sie nicht. Erlebnispädagogik könnte Mädchen also eine Menge bringen.
Doch das Abenteuer beginnt für Mädchen ganz woanders als für Jungen: nicht beim Bungeespringen, sondern schon bei der Rollschuhtour durch die City; oder beim Nachtspaziergang mit Betreuerinnen des Freizi Neustadt. Da ging es nämlich auch ins gefürchtete Parzellengebiet.
Das Abenteuer beginnt für Mädchen nicht nur woanders, es hat für ihre Geschlechtsidentität eine ganz andere Bedeutung: Während sich Jungen über Abenteurphantasien eine stimmige Geschlechtsidentität entwerfen, geraten Mädchen in Rollenkonflikte. Einige haben da bittere Erfahrungen gemacht: Skateboard-Fahrerinnen zum Beispiel kommen für die Jungs nicht als Bräute in Frage. Die Mädchen möchten unter keinen Umständen als unweiblich erscheinen.
Auch das ein Grund beispielsweise für Gisela Feldermann vom Freizi Neustadt, die Mädchen „bei ihren Bedürfnissen abzuholen“: schön wollen sie sein, sich repräsentieren. Deshalb gibt es in diesem Freizi, das neben dem in Osterholz-Tenever am längsten Mädchenarbeit anbietet, einen Mädchenzirkus: Dort können die Mädchen auf einer großen Kugel balancieren, Pyramiden bauen ... aber eben auch Einradfahren.
Prompt machten die Jungs das Einradfahren runter: „Das kann doch jeder, das ist doch keine Kunst“, sagten Schüler während einer Aufführung. Als sie anschließend selbst mal probieren durften, fielen sie reihenweise runter. Demnächst steht vielleicht sogar Feuerschlucken an. Zuerst allerdings müssen die Sozialpädagoginnen im niedersächsischen Weiterbildungszentrum Steinkimmen ihre Ängste überwinden ... Christine Holch
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