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Madonnenrennen und Hufeisenwerfen

In Italien wird (fast) alles zum Sport/ Regionale Originalität und Improvisation sind gefragt/ Erfindungsgeist und Abenteuerlust führen zu zahlreichen Verletzungen, sogar einzelnen Todesfällen/ Auch Touristen sollen ihren Spaß haben  ■ Aus Latina Werner Raith

„Sport ist bei uns sowieso fast alles“, sagt Sandro Salvadori. „Das hier“ — er klopft auf sein wertvolles Rennrad, das er in den dritten Stock des Mietshauses hochhievt — „ist so ein Sport, wie man ihn in anderen Ländern auch kennt. In Neapel machen Jugendbanden aber einen Sport daraus, wer die meisten Vorderräder innerhalb der kürzesten Zeit zusammenklaut. Bei uns ist zuerst der Geist zum Sporttreiben da. Dann erst überlegt man, aus was man alles einen Sport machen kann.“

Sandro muß es wissen — der promovierte Agrarwissenschaftler ist nicht nur ein bewährter Rennfahrer und Fußballer, sondern kommt in seiner Eigenschaft als Präsident des Bauernverbandes Latina in ganz Italien herum. „Die Renaissance alter, lokaler Sportarten nimmt mächtig zu“, stellt er fest.

Das Boccia-Spiel zum Beispiel, an sich in ganz Italien verbreitet, wird traditionell in einigen Regionen ohne Kugeln und ohne Betonbahn gespielt — mit Hufeisen. Besonders in den armen Gegenden wie der Basilicata, wo es wenig Straßenpflaster und viel hügeliges Gelände gibt, ist das Hufeisenwerfen „schon fast wie ein Leistungssport“, sagt Sandro. Inzwischen werden sogar Meisterschaften ausgetragen.

„Oder der ,gioco del straccio‘ auf den Jahrmärkten der Südprovinzen“, zählt Sandro weiter auf, „das erfordert den ganzen Mann.“ Beim „Spiel des Lumpen“ muß man sich auf einem Kettenkarussell während der Fahrt hochschlenkern und einen an einem Galgen befestigten Stoff- Fetzen — den Lumpen — abreißen. Belohnung: eine Freifahrt. Bei manchem steht dabei sogar eine Art Berufsausbildung im Vordergrund: Der Hüftknick, mit dem man den Fetzen herunterreißt, ist eine gute Übung für das Handtaschenwegreißen durch motorisierte Räuber in den Straßen Neapels und Palermos.

Im Vergleich zu diesem „Sport“ ist das in einigen toskanischen Provinzen verbreitete „Käsetreiben“ völlig harmlos. Da werden Holzräder in der Form eines Parmesankäses über die Straße — möglichst eine ungeteerte mit vielen Löchern — geschubst. Die besten Treiber schaffen bei lokalen Meisterschaften mitunter mehr als zehn Kilometer an einem Stück. Im umbrischen Gubbio treten im Mai zum Patrozinium verschiedene Teams an, um die berühmten „Cere“, mehrere Meter hohe Kerzen, in gestrecktem Galopp über eine Strecke von eineinhalb Kilometern zu tragen — gewonnen hat die Mannschaft, die ihre Kerze zuerst aufgerichtet hat. Ein Sport, der das ganze Jahr über trainiert wird und viele Verletzungen provoziert.

Ähnlich gefährlich ist der „Transporto della macchina di Santa Rosa“ in Viterbo im Norden Laziums. Dabei geht es zwar nicht um ein Wettrennen, aber gerannt wird dennoch: Ein bis zu 27 Meter hoher Turm aus Draht und Pappmaschee, illuminiert und mit heiligen Reliquien gefüllt, wird von mehr als hundert Männern die stark abschüssige Straße hinuntergetragen — in Erinnerung an die Überführung der Heiligen-Gebeine im 13. Jahrhundert. „Das Ding wiegt mehr als vier Tonnen“, erzählt Sandro, „und da sind nicht nur gute Läufer, sondern vor allem Gewichtheber gefragt.“ Die Träger werden einem rigiden Training unterworfen: Sie müssen Kästen von 150 Kilo Gewicht über eine Hindernisstrecke schleppen. Auch beim berühmten „Palio“ von Sienna, einem Rennen auf ungesattelten Pferden um die Piazza herum, ist man nicht zimperlich. Da nicht der Reiter, sondern das Pferd gewinnt, lassen sich manche „Fantini“ einfach herabfallen, damit das erleichterte Tier bessere Chancen hat. Es kommt dabei nicht selten zu bösen Verletzungen oder gar Todesfällen bei Mensch und Pferd. Tierschützer protestieren seit Jahren gegen den Rummel. Andere Pferdesportarten sind weniger umstritten. Die „Buttari“, die sich aus dem einst verbreiteten Cowboy-Leben Mittelitaliens ableiten, lenken ihr Pferd mit einer Hand und vollführen Manöver zum Schafetreiben oder Kälberfangen — ein beliebtes Rahmenprogramm bei Reitveranstaltungen. Mehr als fünftausend Mitglieder zählen die verschiedenen Buttari- Vereinigungen heute.

Sandro Salvadori hat erkannt, daß sich daraus für die Bauern etwas machen läßt: „Viele Touristen sind ganz wild darauf, hinter einem Kalb herzugaloppieren.“ So baut Sandro im nächsten Sommer in seiner Provinz zehn „Agritourismus“-Zentren auf, in denen Pferde zu diesem Zweck gehalten werden.

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